Martin Büsser ist gestorben

Martin Büsser ist gestorben

Von Roger Behrens

– – – aus der Erinnerung: In der Anfangszeit von Testcard haben wir uns kennen gelernt, in Mainz oder Hamburg, das weiß ich nicht mehr. Es war nach einem Jahr schon die zweite Ausgabe erschienen, nach »Pop & Destruktion« das Thema »Inland«; jetzt, neunzehnhundertsechsundneunzig, war die dritte Ausgabe in Planung. Titel, bündig: »Sound«. Es folgten »Retrophänomene in den Neunzigern«, »Kulturindustrie«, »Pop Texte« und »Pop Literatur«, »Geschlechterverhältnisse im Pop«, »Pop und Krieg« und Nummer zehn: »Zukunftsmusik«. Das war dann zweitausendeins. Alles Themen; alles Themen von Martin; alles Themen, die Martin in der Diskussion entscheidend wie entschieden mitprägte, ja Themen, die er überhaupt erst auf die Tagesordnung einer noch zu formulierenden, aber benötigten kritischen Theorie der gegenwärtigen Kultur gesetzt hatte: »Beiträge zur Popgeschichte« heißt das ja im Untertitel der Testcard. Das berührte zwar Kulturtheorie und Medienwissenschaft, und klingt zudem nach Kunst‑ oder eben Kulturgeschichte, doch insistierte Martin immer darauf, dass dieses Projekt im Namen von Pop eigentlich einen anderen Ort hat: einen Ort, der irgendwo zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit der gegebenen Verhältnisse liegt, irgendwo zwischen Aktualität und Utopie, und insofern vor allem auch ein politisches, ja emanzipatorisches Projekt ist. Popkritik als kritische Theorie der Gesellschaft. Deswegen: Martin Büsser – unser Freund, Kollege und Genosse.

Die Pop-Geschichte, die Martin vorschwebte, hatte wenig zu tun mit einer Historisierung oder kanonisierenden Chronik, erst recht nicht mit einer Archivierung und Aufbereitung; viel mehr ging es um Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion von Geschichte selbst: Was Martin schrieb, konnte und durfte besten Gewissens Definitionsmacht für sich beanspruchen. Vor allem opponierte er damit jeder Form von universitärem Dünkel. Dass sich der eine oder andere Popstudent mit langweiligen Artikeln über Studentenpop, die dann leider auch schon mal in der Testcard der nuller Jahre veröffentlicht wurden, seine akademische Laufbahn zusammenpublizierte, – so etwas amüsierte Martin höchstens, meistens aber interessierte es ihn gar nicht. Der Gehalt war wichtiger. Und das hat auch mit einem gänzlich anders gewichteten Pop-Begriff zu tun, den formuliert zu haben Martin einen wesentlichen Anteil hatte: Pop als Fortsetzung von Punk – mit anderen Mitteln, versteht sich. Das fing mit dem Zap-Fanzine an, Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger, führte aber notwendig in eine Theoriearbeit, die in gewisser Weise immer Fanzine-Charakter behielt. Resultat dieser äußerst fruchtbaren Arbeit: Pop als »Anti-Pop« (1998).

»Anti‑« wurde dann auch ein wenig zum Leitmotiv, zum Präfix seiner Haltung: nicht nur wo es um Antikunst und »Antifolk« (2005) ging, sondern wo es überhaupt um die Gegenbewegung, die Gegenkraft zum etablierten System, den Einspruch gegen etablierte Ignoranz und die Aufklärung etablierter Dummheit ging – Kritik der Geschlechterverhältnisse waren ebenso sein Thema wie Kritik der Subversionsmythen einer Poplinken, deren originellster und redlichster Vertreter er zugleich war. Mithin war Kritik immer Selbstkritik, geschult an Adorno und Marcuse einerseits, aber auch, von Martin theoretisch klug adaptiert, der Poststrukturalismus, namentlich Foucault, Deleuze und Butler.

Theorie war ihm gleichwohl immer eine Sache der Ästhetik, im radikalen Sinne: als Wahrnehmung. Konsequent hielt er sich an Benjamins Erkenntnis, die – obzwar schon in den dreißiger Jahren formuliert – merkwürdig in den neunziger Jahren sich ganz von selbst aufdrängte: das ästhetische Urteil kann nicht mehr der Kontemplation überlassen werden, sondern folgt einem somatischen Impuls, ist taktil. Und so interessierte ihn insbesondere die Musik, die Bewegung war, Performance, mehr Ausdruck als Stil; und darüber hinaus fragte Martin nach den historischen Zusammenhängen, die freilich immer auch gesellschaftliche bedeuten: »If the kids are united. Von Punk zu Hardcore und zurück« heißt sein wohl bekanntestes Buch, 1995 erschienen, in diesem Jahr dann in der bereits achten Auflage.

Dabei zählte für ihn das Skurile, das Abseitige, die Entdeckung des Ungewöhnlichen: also nicht einfach Jazz und Lo-Fi, Minimal und Postrock, »Pop« und »Klassik«, sondern Caspar Brötzmann und Squarepusher, Mouse On Mars und Crass, Aphex Twin und Pauline Oliveros, Sigur Ros und Morton Feldman, Penderecki oder Stock Hausen & Walkman, Adam Green und Belle & Sebastian, Räuberhöhle und Japanther. Er mochte sie alle – und er kannte sie alle; und Martin wusste sie auch hörbar zu machen, ohne Liebhaberei, ohne Besserwisserei. Was er allerdings nicht mochte, war jede Form von Anbiederung, weder die belanglose an den Mainstream, noch und vor allem nicht die autoritäre an die deutsche Normalität: »Wie klingt die Neue Mitte?« fragte Martin 2001 und gab zugleich die Antwort in historisch-kritischen Exkursen: »Rechte und reaktionäre Tendenzen in der Popmusik«; antinational präzisiert durch Beteiligung bei der »I Can’t Relax In Deutschland«-Kampagne 2005.

Martin war überall, schrieb für Intro, SZ, Fanzines, Buchbeiträge, machte Lesungen, hielt Vorträge, unterstützte, diskutierte: Pop war ihm mehr als Musik, Musik mehr als Pop – es ging um Gender, Filme, Comics, Fernsehen, Romane, Nationalismus, D.I.Y., es ging ums Ganze. Wohl auch deshalb war er irgendwie überall präsent, trotzdem aber nie im Mittelpunkt, sondern stets in den sympathischen Nischen dieser Welt; einer Welt, die ihm ohnehin eine Welt aus Nischen war. Mainz, selber eine Nische in jeder Hinsicht, war die Hauptstadt: der bescheidene Posten klügster Beobachtungen.

Hier lebte Martin, hier hatte er studiert, hier sind die Freunde, hier baute er mit den Ventil-Verlag auf, der renommierteste Verlag in Sachen Pop & Gesellschaft. Bei Ventil erscheint auch die Testcard. »Blühende Nischen« war das Thema der letzten Ausgabe, Nummer 19. Martin schrieb über: »Das Ende der Pop-Relevanz und das Wuchern der Nischen«. Die hier von Martin ausgeführte These bewegte uns eigentlich schon latent seit Mitte der Neunziger, also seit Gründung der Testcard: Pop hat sein Ende erreicht, fällt der allgemeinen Banalisierung anheim, und zwar paradox gerade dort, wo alles Pop wird, jeder mitreden kann, jeder mitreden darf, alles etwas zu sagen haben, aber eigentlich doch niemand etwas zu sagen hat. Aus den Popkulturen, den wie auch immer subversiven Jugendbewegungen, sind längst die informierten Konsumenten geworden, jeder für sich, keine anonyme Masse mehr, sondern die modische Inszenierung eines nonkonformistisch-konformen Individualismus: Ein Publikum, das – so Martin – durch »Orientierungslosigkeit« charakterisiert ist, das Pop und Kunst überhaupt nur noch als Warenfetisch zu erleben vermag, keine Erfahrungen mehr macht. Was Martin dagegen setzte, als Programm, war indes nie die esoterische oder klandestine Abriegelung der guten Nischen, sondern Aufklärung und Einladung, sich die letzten Phänomene des Pop genauer anzusehen, anzuhören, auszuprobieren. Im letzten Jahr, 2009, erschien, zusammen mit Jonas Engelmann und Ingo Rüdiger herausgegeben, »Emo. Porträt einer Szene«. Auch hier und wieder einmal kritisierte Martin als Anwalt, mit Solidarität und Sympathie für weit mehr als bloß eine Szene.

Noch in den letzten Wochen schrieb und publizierte Martin zahlreiche Texte, Aufsätze, Rezensionen und Kommentare. In der Oktoberausgabe der konkret ist eine Plattenkritik von ihm; im Septemberheft eine Besprechung der »Peanuts«-Werkausgabe. Im Juliheft der konkret kritisierte er Matthew Herberts »recomposed«-Version von Gustav Mahlers X. Sinfonie. Sie sei uninspiriert und im Umgang mit dem fragilen Material plakativ und einfallslos. Es ging eben um Mahler, den Martin schätzte. Dass er gerade die X. Sinfonie gegen ihre schnöde Adaption verteidigte, ist bestürzende Ironie: Mahlers Thema der Komposition, die er unvollendet hinterließ, sind Abschied, Verlust, Trauer.

Bei Martin Büsser wurde Krebs diagnostiziert, vor wenigen Monaten. Der schweren, unheilbaren Krankheit ist er am 23. September erlegen. Der Tod ist unfassbar, macht sprachlos. Was ich mitnehme, fortan, sind die Worte, mit denen er sein vor zehn Jahren erschienenes »Lustmord – Mordlust« beschloss – Worte, die alles andere als ein Ende fordern: es »muss noch sehr viel passieren«.

Quelle: www.beatpunk.org

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