"Vor lauter Frühlingen sind die Winter vergessen worden"

Die Kolumne von Café Morgenland

Vor lauter Frühlingen sind die Winter vergessen worden

Seit über einem Monat finden in der Türkei Massenaufstände statt, die auf den Namen „Gezi-Park-Widerstand“ getauft wurden. Der Begriff ‚Massenaufstand‘ erscheint hier insofern angemessen, als die am 28. Mai ausgebrochene Demonstrationswelle sowohl massenhaft (nach Angaben des staatlichen Sicherheitsapparats sind bis dato etwa 5 Millionen daran beteiligt) als auch aufständisch ist (der gemeinsame Nenner der Aktionen scheint bis jetzt eine anti-Regierung-Haltung zu sein, die sich nicht nur friedlich sondern auch oft in Form von Straßenschlachten ausdrückt).

Diese zwei Eigenschaften sind anscheinend vollkommen ausreichend, um im Westen Solidarität und Bewunderung quer durch alle Schichten, politischen Formationen und Ideologien hervorzurufen. Bilder und Reportagen des Aufstandes (von den „Analysen“ ganz zu schweigen) machen in allen Gazetten – von Bild bis Guardian, von Spiegel bis JW1 (beide Abkürzungen) – die Runde.

Türkenhasser, die vor kurzem die Zuteilung des Hoheitsrechts auf das Gedenken an die Mölln-Morde monierten, singen nun Lobgesänge auf das Türkentum. Moslemfresser verschleiern sich mit Religions- und sonstigen Freiheiten. Antinationalisten legen sich eine türkische Fahne zu, wahlweise mit oder ohne Atatürk Porträt.

Angela Merkel und Claudia Roth (sie seien hier stellvertretend für die unzähligen Experten und Empörten genannt) erheben den Zeigefinger um , zu erklären was ein Despot ist, zu belehren wie sich die türkische Polizei bei Demos zu verhalten hat, kurz: um den Türken richtige Demokratie beizubringen.

Das linksdeutsche Gesocks imaginiert abermals eine Revolution, und lässt um der Sache Willen den schmerzhaften und schmachvollen Umstand, dass sie diesmal ausgerechnet von den ‚Türken‘ kommen musste, mit Geduld und Tapferkeit über sich ergehen. Die dazu notwendige seelisch-geistige Energie schöpft es selbstverständlich aus der urdeutschen Tugend, die sich in dem nicht nur inhaltlich sondern auch literarisch exquisiten Weisheitsspruch kristallisiert: „besser als in die hohle Hand geschissen“. Hauptsache noch ein revolutionärer Frühling, noch eine heroische Rebellion!

Apropos Internationale Solidarität: In Griechenland rufen Linksradikale und Anarchisten zur Solidarität mit „Konstantinopel“ - wie sie Istanbul nennen - auf, und stellen mit dieser revanchistischen Bezeichnung sicher, dass ihre jahrhundertealten Ansprüche auf die „Schöne am Bosporus“ nicht in Vergessenheit geraten.

Also reden wir über die zahllosen vergessenen Winter in der Türkei, über ganz andere Städte, Ortschaften und ganz andere Ereignisse. Ereignisse, deren Anfänge bis weit vor die Gründungszeit der Republik, mindestens bis in die Zeit der ersten Machtübernahme der Vorreiter des Verwestlichungsideals zurückreichen und deren zeitlich lückenlos zusammenhängende aktuelle Phase seit über drei Jahrzehnten ununterbrochen andauert.

Also reden wir über Koçgiri, Ağrı, Van, Zilan, Dersim, Diyarbakir, Maraş, Şırnak, Cizre, Batman, Roboski, Halepçe, Kamışlı… es werden weitere 135 Ortschaften genannt…
(Adaklı, Adilcevaz, Afşin, Ağın, Ağrı, Ahlat, Akçadağ, Alacakaya, Andırın, Arapgir, Arıcak, Aşkale, Aydınlar, Bahçesaray, Başkale, Baykan, Besni, Beşiri, Beytüşşebap, Birecik, Bismil, Bozova, Bulanık, Ceylanpınar, Cizre, Çağlayancerit, Çaldıran, Çatak, Çayırlı, Çelikhan, Çemişgezek, Çermik, Çıldır, Çınar, Çukurca, Çüngüş, Dargeçit, Derik, Dicle, Digor, Diyadin, Doğanşehir, Doğubeyazıt, Edremit, Eğil, Ekinözü, Elazığ, Eleşkirt, Erciş, Ergani, Eruh, Erzurum, Genç, Gercüş, Gerger, Gevaş, Gölbaşı, Göle, Güçlükonak, Güroymak, Gürpınar, Gürün, Hakkâri, Halfeti, Hamur, Hanak, Hani, Hasankeyf, Hasköy, Hazro, Hekimhan, Hınıs, Hilvan, Hizan, Hozat, İdil, İmranlı, Kahta, Kale, Kangal, Karaçoban, Karakoçan, Karayazı, Karlıova, Kemah, Kemaliye, Kızıltepe, Kiğı, Kilis, Kocaköy, Korkut, Kovancılar, Kozluk, Kulp, Kuluncak, Kurtalan, Lice, Maden, Malazgirt, Mazgirt, Mazıdağı, Midyat, Muradiye, Mutki, Nazımiye, Nazımiye, Nizip, Nusaybin, Oltu, Ovacık, Ömerli, Palu, Pasinler, Pazarcık, Pertek, Pervari, Pülümür, Pütürge, Refahiye, Samsat, Saray, Sarıkamış, Sason, Savur, Silopi, Silvan, Siverek, Sivrice, Solhan, Suruç, Susuz, Şemdinli, Şenkaya, Şirvan, Taşlıçay, Tatvan, Tekman, Tutak, Tuzluca, Türkoğlu, Uludere, Üzümlü, Varto, Viranşehir, Yavuzeli, Yayladere, Yedisu, Yenişehir, Yeşilli, Yeşilyurt, Yüksekova, Zara)2 und viele, unzählige andere kurdische Städte und Ortschaften wo Nutzvieh, Wildtiere, Menschen, Obstbäume, Nutzvögel, Berge, Gemüsegärten, ganze Wälder, Flüsse, Kinder, Bäche, Wildvögel, Frauen, Hügel etc. individuell oder in unterschiedlich großen Gruppen abgeschlachtet, niedergemetzelt, zerbombt, niedergebrannt, verunstaltet, zerstampft, erstickt, zertrümmert, verstümmelt, abgestochen, ausgerottet, zerschmissen, geschändet, demoliert, kurz und klein geschlagen, niedergerissen, zermalmt, vergewaltigt, zerlegt, zusammengeschossen, gemordet, ertränkt, niedergestochen, erwürgt etc. wurden.

Die banale Frage lautet: Reichen die eingangs erwähnten zwei Kriterien aus, um von Befreiung, Emanzipation und ähnlich süßen Kordialitäten zu reden? Ist es denn überhaupt möglich von Frühling zu reden in einer Gesellschaft, in der eine Minderheit – um bei den Jahreszeiten zu bleiben – seit Ewigkeiten der Todeskälte eines nicht enden wollenden Winters ausgesetzt ist? Kann man denn angesichts des ewigen Gemetzels – auf das oben in euphemistischer Gestalt einer endlosen Liste von Ortsnamen verwiesen wird – gegen Alkoholverbot demonstrieren?

Wir sagen kategorisch nein. Nicht mal daran zu denken! Das einzige Kriterium, das für uns in Frage kommt, ist ein gänzlich anderes.

In der jungen Republik Türkei, deren westlich moderne Grundsäulen auf Mord und Massaker fußen, und die sowohl ihren Gründungsauftrieb als auch ihre Legitimation aus Mord und Massaker schöpfte, hat jede Handlung, jeder politischer Akt, jeder Widerstand, um einen legitimen Anspruch darauf erheben zu dürfen, gegen Vernichtung zu sein, vor allen Dingen unmissverständlich und öffentlich auf der Seite der Kurden Position zu beziehen und sich gegen die Leugnung des Völkermords an den Armeniern zu stellen.

Dies ist die absolute Schwelle überhaupt, der das ganze System der sozialen Handlungen in der Türkei bestimmende Nullpunkt.

Anders gesagt, jede soziale Handlung – jeder Akt, jeder Widerstand, jede Bewegung ungeachtet der Anzahl der daran beteiligten Akteure –, die diese anfängliche Positionierung nicht vollzogen hat, gehört für uns zu den Handlungen der gleichen Seite der oben skizzierten Konfrontation, zu der des Vernichters. Sie wird folgerichtigerweise als Ausdruck dessen angesehen, dass die Subgruppen der gleichen Seite miteinander um die Ehre des besseren Vaterlandsliebhabers wetteifern; darum, wer die Einheit und Unteilbarkeit des Vaterlandes am besten gegen den amerikanischen, europäischen, zionistischen etc. Imperialismus schützen kann.

Café Morgenland, 03.07.2013

Ergänzend verlinken wir hier mal mit Kommentierung jeweils dazu zwei aufschlussreiche weitere Texte:

Die Aufstände in Taksim – zwischen-hippie-flair-selbstverwaltung-und-nationalismus
(Karakök Autonome)

Ganz zu Beginn der Taksim Bewegung erhielten wir die folgendene Nachrichten (Auszug):
"Es wurde ausdrücklich gesagt, heute morgen: keine Slogans, keine Flaggen, keine Ausgrenzung. Du kommst auf den Platz und siehst wieder die Pfosten mit den größten Flaggen. ... Für die Türkei ist das Bündnis mit dem Teufel leider ein Schritt den sie gehen müssen, um festzustellen, das er der falsche ist. Trial and Error. ... kommunisten, anarchisten, graue wölfe, schulter an schulter gegen die "faschisten". überall steht auch "eylem birliği" gesprüht, was soviel heißt wie aktionsfront."

"...auch wenn ich kein klares bild habe, wäre ich erstmal vorsichtig... es riecht nach syntagma-platz, wie das bild zeigt"
https://www.facebook.com/photo.php?fbid=667372429944922&set=a.6663601367...

Ferner verlinken wir: "Der faschistische Agitator und sein Brüllvieh" von cosmoproletarian-solidarity

Dieser Text wurde kurz und knapp mit den folgenden Worten kommentiert: "All das gilt auch für die Gegner von Erdogan."

Wir verweisen auch noch einmal auf:
"Selektive Empathie und gefährlicher Nationalismus: „Kurdische Terroristen, türkische Revolutionäre“?"

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