#noG20: In der erschienen Literartur zum Jahrestag ist sehr lange zu suchen, bis

dann endlich das folgende auftaucht: ... "Aber es fällt doch auf, wie wenig jenes spannungsreiche Verhältnis zwischen politischer Absicht und militanter Tat überhaupt diskutiert werden – Zusammenhänge, die in marxistischen bzw. sozialistischen Bewegungen seit dem 19. Jahrhundert als das Problem von Theorie und Praxis[14] verhandelt worden sind, lange zum kanonischen Traditionsbestand linker (Arbeiter-) Bewegungsorthodoxie gehörten, und später, nämlich im Kontext der „68er“-Studentenproteste, in voll entfalteter Ambivalenz virulent wurden. Die ursprünglich leitende Frage gelingender gesellschaftlicher Umwälzung des orthodoxen Marxismus war stets: Wie ist das Verhältnis von „richtiger“ theoretischer Gesellschaftskritik und „richtiger“ gesellschaftsverändernder Praxis zu bestimmen? Sie endete in der bis heute ungelösten Frage: Wie ist überhaupt noch Praxis möglich? „No G20“ zeigt, dass nichts von diesen Problemen verjährt ist, ja dass sich dumm macht, wer sie ignoriert. Es lohnt sich daher, mithilfe eines Exkurses zu Theodor W. Adorno an ein grundlegendes Dilemma zu erinnern.

Folgt man Adorno, lebt der Mensch der Nachkriegs-Gegenwart in einem Zustand der Vereinzelung. Die Macht der gesellschaftlichen Verhältnisse tritt uns allen als unüberwindlicher Block gegenüber; unsere grundlegende Alltagserfahrung ist die der Ohnmacht. Das Denken scheint angesichts dieser Ohnmacht ein isoliertes Eigenleben zu führen, während die Mitarbeit an der Veränderung der Zustände – gar in Form kollektiver Organisationsformen – als vergeblicher, alltagsferner Idealismus erscheint.

An der Unzugänglichkeit der Praxis aber leide auch die Theorie: Die Anpassung an die suggerierte Rationalität einer objektiv übermächtigen Welt verwandle das Denken in einen Agenten des konformistischen „Mitmachens“, dem es vor allem darum gehe, den eigenen Vorteil in der individuellen Erfahrungswelt zu sichern; diktiere die vorhandene Realität doch sämtliche Handlungsspielräume: „Es ist, wie es ist.“ Umso stärker bilde sich im sozial isolierten – und somit handlungsunfähigen – Subjekt das Verlangen nach erfahrbarer Praxis, die ideell übersteigert werde und vor allem Ausdruck des Wunsches nach eigener Selbstwirksamkeit sei.[15] Das Ergebnis ist – aus der Sicht Adornos insbesondere unter den Aktivisten der „68er“-Bewegung – willkürlicher Aktionismus.

Ein möglicher Ausweg aus dieser Situation ist, so Adorno, die gedankliche Trennung von Theorie und Praxis in ihrer Starrheit zu überwinden: „Denken ist Tun, Theorie eine Gestalt von Praxis; allein die Ideologie der Reinheit des Denkens täuscht darüber.“[16] Eine Reflexion der Situationszwänge könne über ebendiese hinausführen, die Aufgabe dies zu leisten falle der Theorie zu, damit aber wohne jeder Theorie unweigerlich ein praktischer Impuls inne. Auf der anderen Seite sei Praxis ohne Theorie eben keine Praxis, sondern zwar hochrationalisiert-effiziente, aber potenziell wahnhaft-gewalttätige, Aktivität: [17] „Das Falsche des heute geübten Primats von Praxis wird deutlich an dem Vorrang von Taktik über alles andere. Die Mittel haben zum Äußersten sich verselbstständigt. Indem sie reflexionslos den Zwecken dienen, haben sie diesen sich entfremdet.“[18]

Das Dilemma, das sich in der Bewertung des riots nun in aller Deutlichkeit zeigt, hat Adorno also als dialektisches Auseinandertreten von Theorie und Praxis gefasst. Gesellschaftlicher – gar revolutionärer – Wandel ist demnach durch die einseitige Hinwendung zu einem der beiden Extreme unmöglich geworden. Der Ausweg aus dieser Unvereinbarkeit der beiden Gegensätze liegt nicht in der Subordination eines der Pole unter den anderen, vielmehr müsse das Denken zu eigener, neuer Selbstständigkeit kommen, gerade indem es sich bewusst mache, wie sehr es mit beiden Beinen im gesellschaftlichen Zusammenhang mit seinen praktischen Imperativen steckt: „Diejenige Theorie dürfte noch die meiste Hoffnung auf Verwirklichung haben, welche nicht als Anweisung auf ihre Verwirklichung gedacht ist […].“[19] Das ist eben das Dilemma, vor dem wir alle heute stehen: Was, wie Lenin fragte, zu tun sei, war in den 1960er/70er Jahren und ist auch fünfzig Jahre danach nicht mehr so gewiss wie in der alten bürgerlichen Gesellschaft, im Gegenteil: es ist spätestens seit der Diskreditierung des Sozialismus durch den Zerfall der Sowjetunion radikal unklar." ...
(http://www.demokratie-goettingen.de/blog/ist-der-aufstand-noch-politisch)

Und dann das:
"Wenn es eines gab, worin sich breite Teile des politischen Spektrums in der kaum vergangenen Özil-Debatte einig waren, dann wohl in der Verwendung dieses einen Worts: Integration. Menschen können, so las man überall, schlecht integriert oder gut integriert, sogar hervorragend integriert sein, sie sind demnach mal integrationswillig und mal vollkommen integrationsunfähig."
https://www.zeit.de/amp/kultur/literatur/2018-08/desintegriert-euch-max-czollek-migranten-juden-deutschland

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