Die deutsche Kolonie in Jiaozhou, Qingdao und die Rolle des dt Kaiserreiches bei der Niederschlagung des Boxeraufstandes

Im September wird es die Gelegenheit geben, die Ergebnisse gleich mehrerer Ausstellungsprojekte in Hamburg zu besichtigen, die sich mit Qingdao auf unterschiedlichste Weise befassen. Ihr Inhalt kann - auch da beide Projekte im Rahmen der Chinatime stattfinden werden - in mehrfachem Sinne mit Spannung erwartet werden.

Qingdao - Neue Acht Szenerien einer Stadt 青岛 - 新八景 31.8. – 23.9.18
Deng Huaidong, Li Weisong, Ni Shaofeng, Xia Xun, Zhu Xu
In Anlehnung an die „Acht Szenerien", in denen sich die typischen Merkmale einer Stadt oder einer Landschaft wiederfinden und die in der chinesischen Kunsttradition als Untergruppe der Landschaftsmalerei eine eigenständige Tradition aufweisen [… hat] eine in Shandong geborene Gruppe von KünstlerInnen die „Neuen Acht Szenerien“ auf die Stadt Qingdao in der Provinz Shandong angewendet, um damit den Prozess der Urbanisierung Qingdaos künstlerisch zu thematisieren. Qingdao war nicht nur wegen seiner rasanten Entwicklung, sondern auch auf Grund seiner historischen Beziehungen zu Deutschland ausgewählt worden. (Auszug Ankündigung)
31.8.18 17h – 11.9.18 Hamburger Rathaus, Eingangshalle
1.9.18 18h – 21.9.18 17h Handelskammer Hamburg, Galerie 1. Etage, Vernissage 01.09.2018, 18 Uhr, Commerzsaal
3.9.18 – 22.9.18 Zentralbibliothek, Vernissage: 3.9.18, 18h
http://www.greatculturalrevolution.com/

Bookmarking Qingdao 社会书签 ・青 岛 8.9. – 16.9.2018

Artistic Research und Ausstellung mit: Zhu Yijie, Dagmar Rauwald, Nikita Kotliar, Li Yi, Ute Rauwald, Tong Xin und Li Xinyi
Eine künstlerische Setzung, die Orte der politischen und kulturellen Reflektion schafft. Die Feldforschung in Qingdao fokussiert die Geschichte der ehemals deutschen Kolonie in China, die die folgende Ausstellung in einer multimedialen Installation thematisiert. […] An den Bruchstücken der Recherche entzünden sich Konzepte von Zwischenräumen kultureller Identifikation. (Homi K. Bhabha). In den Räumen der ehemals preußischen Viktoriakaserne findet hierzu eine Ausstellung der beteiligten Künstler_innen statt. (Auszug Ankündigung)
8.9. – 16.9.2018 - Frappant Galerie, Zeiseweg 9, 22765 Hamburg – Podiumsdisgespräch 17h, Seminarraum der Fabrique im Gängeviertel, Vernissage: 7.9.18 ab 19h Frappant Galerie

Zum Geschichtlichen Hintergrund
China war nicht wie andere Kolonien besetzt, sondern die verschiedenen Kolonialmächte unterhielten Kolonialstellungen, nämlich Häfen, Gebiete wirtschaftlichen Einflusses, Missionen und Militärstellungen, wo sie mit ausverhandelten Sonderrechten verwalteten und/oder regierten.

Die deutsche Kolonie in Jiaozhou
Gerade frisch zusammengezimmert, voller Tatendrang nach ‘70/’71, regiert von vom Vater Wilhelm I als zu harsch und brutal gescholtenen Wilhelm II, blickte die stets gequälte deutsche Seele neidisch auf die unter anderen Staaten aufgeteilte Weltkarte. Orientiert an den bereits bestehenden Missionen in Shandong und durch Diplomatie vorbereitet suchte die deutsche Regierung seit Jahren schon nach einem geeigneten Stützpunkt in China. Die in Shandong gelegene Hafenstadt Qingdao und die Bucht von Jiaozhou galten aus vielerlei Gründen als Favorit. Die Ermordung zweier deutscher Missionare in Juye, Shandong, wurde als Anlass genommen, Qingdao, damals, verglichen mit der Umgebung im Qing-dynastischen China eigentlich ein Dorf, einzunehmen und im Gebiet Jiaozhou die deutsche Kolonie „Kiaotschou“ einzurichten. Eine konstruierte Rache, wenn man so will. Endlich nun sollte Deutschland auch einen „Platz an der Sonne“ unter den anderen in China gut etablierten Kolonialmächten erhalten [Reichskanzler von Bülow Dez. 1897] - zumindest erst einmal auf Pacht von 99 Jahren. Das Konzept hinter dieser Kolonialisierung war nicht wie etwa im Falle deutsch-südwest-Afrikas auf Eroberung und Okkupation des Landes gerichtet, sondern mehrheitlich darauf bedacht, eine sog. deutsche Kultur unter die als ungebildet und zurückgeblieben beurteilte chinesische Bevölkerung zu bringen. Ebenfalls bestand ein Interesse daran, einen Teil des wachsenden Handels mit China abzubekommen und die Entwicklung der dortigen Industrie mitzubestimmen. Qingdao wurde architektonisch und bevölkerungspolitisch maßgeblich umstrukturiert. Die Errichtung von Schulen, Kirchen, Häusern, Straßenbeleuchtung und einem Kanalisationssystem ist bis heute von einigen Mythen begleitet, die hauptsächlich aus dem lobend bewundernden Klischee einer deutschen Ingenieurskunst und technischen und planerischen Perfektion bestehen. Die Herrschaft über die Stadt hatte einige wesentliche Grundlagen: Es wurde ein sich auf Rasse stützendes Mehrklassensystem etabliert, in dem die privilegierte Bevölkerung deutsch sein sollte. Sie unterstand orientiert an der für Diplomaten geltenden Gerichtsbarkeit einer eigenen solchen. Die chinesische Bevölkerung sollte hauptsächlich aus Dienstboten, Angestellten, Kulis, Mägden, Prostituierten usw. bestehen. Ihnen war es nicht erlaubt, innerhalb des Stadtgebietes zu wohnen. Am 14. Juni 1900 wurde die sog. „Chinesenverordnung“ verabschiedet, die die rassistische Aufteilung der Bevölkerung durch Reglements manifestierte und legalisierte. Erst 1902 gab es daran von Seiten der internationalen und deutschen Presse Kritik. In Qingdao nun hatte das Kaiserreich eine Kolonie erschaffen, auf deren Boden sich Missionare*, Journalist*en, Industrielle, Schriftsteller*innen, Militär, Akademiker*innen und Teile der Aristokratie auf ein als im Positiven abenteuerlich oder politisch bedeutend empfundenen Experiment in der ungehobelten Ferne mit Freuden eingelassen hatten. Verbunden mit dieser Konzession, aber auch unabhängig von ihr, wurden Verträge über die Gründung von Eisenbahn- und Bergbaugesellschaften ausgehandelt, die die Zone eines deutschen Einflusses erweitern sollten.

Die Rolle des deutschen Kaiserreiches bei der Niederschlagung des Boxeraufstandes 1900-1901
Nachdem in den späten 1890er Jahren die Zahl der Mitglieder der in Shandong entstandenen Yihequan 義和拳, von Missionaren wegen ihres essentiellen Merkmales der Anwendung von Kampfkünsten verschiedener Richtungen Boxer genannt, stetig anstieg, ihre gegen die westlichen Invasoren, allen voran die Missionare, und deren Technik gerichteten Angriffe mehr wurden, das Kaiserhaus der Qing-Dynastie darauf auf verschiedene widersprüchliche Weisen reagiert hatte und schließlich im Frühjahr 1900 das Gesandtschaftsviertel in Beijing angegriffen zu werden drohte, sahen sich die westlichen Mächte zu militärischer Intervention gezwungen. Zu den Hauptakteuren dieses Kolonialkrieges, den USA, England, Frankreich, Russland und Japan zählte ebenfalls das deutsche Kaiserreich, das sich insbesondere in der Spätphase durch Strafexpeditionen grausam hervorgetan hat.

Hintergründe der Boxerbewegung
Die Ursachen und Auslöser für die Entstehung der Fäuste, quan 拳 für Gerechtigkeit, yi 義 und Harmonie, he 和 sind wie stets vielfältig und werden bis heute von der Geschichtsschreibung, je nach politischer Ausrichtung, unterschiedlich gewichtet und die Hergänge während der gesamten Boxerperiode verschieden interpretiert.
Die anhaltende Kolonisierung von Teilen des chinesischen Reiches durch England, Frankreich, Russland und Deutschland hatte China, also die regierende Qing-Dynastie, erstmals heftig durch die Opiumkriege 1839-42 und 1856-60, in ihrer Souveränität und Handlungsfähigkeit massiv und anhaltend geschwächt. Dazu kamen andere Kriege und Auseinandersetzungen, die zu weiterer wirtschaftlicher, militärischer und allgemeiner Zerrüttung und Schaffung neuer Abhängigkeiten der gesamten Bevölkerung geführt haben. Das Auftreten deutscher Missionare, die zB von der bäuerlichen Bevölkerung in Shandong ebenfalls Land billig erwarben, wurde zunehmend respektloser und arroganter. Die für westliche Missionare, Militär und Diplomaten gegenüber der chinesischen Bevölkerung unterschiedliche Gerichtsbarkeit bot dafür rechtliches Backup. Teile der Bevölkerung, bis hin zu Beamten, sahen dem immer weniger tolerant zu.
Seit Jahren hatte insbesondere die Provinz Shandong immer wieder mit Flutkatastrophen zu kämpfen, die stets zu Landflucht führten. Miss- oder ausbleibende Ernten werden auch auf ein Versagen der lokalen Beamten, die die Verwaltung baulicher Maßnahmen etwa an Deichen vernachlässigt haben, zurückgeführt. Die Zahl der bäuerlichen Bevölkerung, die ihrer sich selbst erhaltenden Arbeit nicht mehr nachkommen konnten und somit nicht mehr in der Lage waren, sich zu ernähren, wuchs. Es entstanden vielerlei Zusammenschlüsse von Menschen, die dies nur durch Diebstahl zu bewältigen wussten. Sie organisierten sich teils solidarisch mit Hilfsbedürftigen, teils nicht.
Die Yihequan nun gingen aus dieser Situation als eine Gesellschaft ohne zentrale Führung oder Organisation hervor. Ob sie als Geheimgesellschaft einzustufen seien, oder ob ihre Ursprünge in Milizen bestand, die sich gegen Diebstahl schützen wollten, ist umstritten. Zwar hatten sie nicht die typischen Merkmale bisheriger chinesischer Geheimgesellschaften, aber sie gewährleisteten die Versorgung der ‚Mitglieder‘, ein Konglomerat an mythischen Ideen und spirituellen Praktiken mit einer Art Heilsversprechen. Sie praktizierten eine Mischung verschiedener Kampfkunstrichtungen, die sie zu einem eigenen Stil formten. Dies wurde, zwar stets unterschiedlich stark ausgeprägt, dennoch inhaltlich recht einheitlich, von einer Mythologie der Unverwundbarkeit begleitet. Die Yihequan suchten die Verantwortlichen für die katastrophale Lage der bäuerlichen Bevölkerung in den ausländischen Teufeln, vor allem verkörpert durch Missionare. Auch in chinesischen Christen, den Lokalbeamten und der kaiserlichen Regierung sahen sie Urheber für die katastrophale Lage der bäuerlichen Bevölkerung.
Diese hatte vielerlei Gründe, sich den Boxern anzuschließen. Allem voran versprach diese Gemeinschaft Protektion vor allen möglichen Seiten und ganz einfach die Versorgung mit Essen. Dies waren ebenfalls Hauptgründe für viele, dem Christentum beizutreten und Protektion von anderer Seite zu bekommen. Ein erhoffter Kampf gegen korrupte lokale Beamte und die Qing-Herrschaft folgten. Die ‚Vertreibung‘ verhasster Ausländer kamen später dazu. Letzteres wurde allerdings zum prägenden Inhalt der Boxerbewegung.
Begonnen mit der strittigen Thronfolge, die wiederum an Machtverhältnisse zwischen Mandschu- und Han-Gruppierungen geknüpft war, über die grundsätzlichen Fragen zum Umgang mit den Kolonial-Mächten, bis hin zu Versuchen, die Struktur der chinesischen Regierung im Ganzen zu reformieren, war das Kaiserhaus selbst in mehrere Lager gespalten. Im Ergebnis versuchte es zunächst, die Boxer zu bekämpfen, integrierte sie später jedoch als Yihetuan 義和團, Abteilung für Gerechtigkeit und Harmonie, in die Regierungstruppen, um die ausländischen Mächte zu bekämpfen.

Die Rolle des deutschen Militärs im Boxeraufstand
Die Yihequan begannen im April und Mai 1900 in Baoding mit zerstörerischen Angriffen auf Telegraphen- und Eisenbahnanlagen und ausländischen Ingenieuren vor Ort. Später gingen sie Wohnsitze ausländischer Bevölkerung und Personen selbst an. Die westlichen und japanischen Diplomaten im Gesandtschaftsviertel Beijings nahmen die Gefahr durch die Boxer für sich selbst erst im Frühjahr 1900 wahr, als diese sich von Shandong aus in Richtung Beijing bewegten. Nicht nur ihre Interessen in China wurden gefährdet, sondern auch ihre tatsächliche Präsenz. Im Juni hatten die Boxer bereits Beijing erreicht und begannen die Belagerung der Stadt. Dabei war insbesondere das diplomatische Viertel ein Ziel, allerdings setzten sie zunächst quasi alle möglichen Geschäfte und Wohnhäuser in Brand, die sie mit den ausländischen Teufeln in Verbindung brachten. Dabei gingen sie mit der gesamten Bevölkerung schonungslos um. Sie töteten ca. 20.000 Menschen, darunter ca. 200 Ausländer. Letztere betrachteten die Kolonialmächte als ihre Angelegenheit, Opfer unter der chinesischen Bevölkerung als innerchinesisches Problem.

Deutschland will Rache nehmen und kommt zu spät
Die Rolle des deutschen Militärs im Boxeraufstand ist bis zum Eintreffen der Truppen im Herbst 1900 aus militärstrategischem Standpunkt heraus nicht von besonderer Bedeutung (im Klartext also dem eigenen Verlangen entgegengesetzt keine Heldentat). Was die diplomatischen Kreise angeht, hat der deutsche Teil der Allianz der acht Nationen 八國聯軍, die sich allmählich gegen die Boxerbewegung bildete, jedoch besonders durch den gern harsch argumentierenden deutschen Gesandten von Ketteler Aufmerksamkeit auf sich gezogen und rigoroseres Vorgehen erzwungen. Es sind mehr als zwei Fälle bekannt, zu denen er selbst Zivilisten prügelte, sie erschoss oder exekutieren ließ. Er wurde im Juni 1900 von einem Offizier der Armee der chinesischen Regierung erschossen. Kurz zuvor hatte eine Falschmeldung in der Daily Mail über die Ermordung aller Personen im Gesandtschaftsviertel trotz rascher Richtigstellung zum Beschluss zur Entsendung von Sühnetruppen seitens der verbündeten Westmächte geführt. Genauso taten die widersprüchlichen Aussagen zum Tathergang der Erschießung Kettelers dem weiteren Geschehen keinen Abbruch. Die Erschießung Kettelers war nun der Anlass für das deutsche Kaiserreich zur Mobilmachung gegen China.

Hunnenrede
Die Reden des deutschen Kaisers Wilhelms II zur Verabschiedung der Soldaten zu Bekämpfung der Gelben Gefahr sind nicht ‚nur‘ seine gewöhnlichen rhetorischen Eskapaden gewesen, sondern waren Ausdruck einer in der breiten Bevölkerung tief verankerten Gefühls der Überlegenheit und des beleidigt-Seins. Das im 17. Und 18. Jhdt. noch bewundernde Bild Chinas als beeindruckende Jahrhunderte alte Macht von hoher Bildung änderte sich mit dem Beginn des Kolonialismus im 19. Jhdt. Zahlreiche Reiseberichte und Artikel zeugen von der Selbstverständlichkeit der christlichen oder abendländischen, in jedem Fall deutschen Sache, die berechtigterweise auch in China Einzug zu halten hatte, und die es nun um die Jahrhundertwende auch am anderen Ende der Welt zu verteidigen gelte. Nach der Ermordung Kettelers, so die beinahe einhellige deutsche Meinung, habe sich China endgültig aus der Reihe der moralisch rechtschaffenen Völker herausmanövriert. Ein Völkerrecht sollte auf chinesischem Gebiet nur gegenüber den westlichen Mächten anwendbar sein, nicht auf die chinesische Bevölkerung, die Boxer oder die kaiserliche Regierung. Der alte Topos des empfundenen Affronts als legitimer Grund zu vergelterischen Maßnahmen ist auch hier aufzufinden (siehe Chemnitz). Wilhelms II im Juli in Bremerhaven gehaltene nach Rache rufende „Hunnenrede“ wurde, wie Feldpostbriefe zeigen, begeistert aufgenommen. Die Parole „Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht“ verstieß gegen die Haager Landkriegsordnung, diente dennoch und deswegen Offizieren als Rechtfertigung für ihr späteres Vorgehen. Die Versuche, die markantesten Stellen zu zensieren, schlugen fehl. Ob entsetzt, belustigt oder begeistert, der Wortlaut der Rede war in kürzester Zeit kursiert und umgehend verwendet worden. „Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in der Überlieferung gewaltig erscheinen lässt, so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, etwa einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“
Das chinesische Kaiserhaus unterstütze nach dem Aufschrei der verbündeten Mächte ab dem 21. Juni die Boxer, indem diese in seine Regierungstruppen integriert wurden.
Der militärische Nachschub aus Deutschland – wie der aus Frankreich und Italien – kam allerdings für die ersehnte große Schlacht zu spät. Am 14. August hatten Großbritannien, die USA, Russland und Japan die Belagerung des Gesandtschaftsviertels in Beijing beendet. Die regierende Kaiserinwitwe Cixi floh nach Xi’an und erließ am 7.Sept ein Edikt, in dem den Boxern die Schuld für alle Kriegshandlungen zugewiesen wurde.

Waldersee als oberster Befehlshaber über die alliierten Truppen
Feldmarschall Graf Alfred von Waldersee wurde nach einer längeren Phase ruppigster Diplomatie Wilhelms II – die eigentlich bedeutete, andere Staaten gegeneinander auszuspielen und sie durch Falschinformationen vor vollendete Tatsachen zu stellen - für Deutschland als Oberbefehlshaber über die alliierten Truppen ernannt. In der satirischen Presse brachte ihm dies den Spitznamen „Weltmarschall“ ein. Das deutsche Interesse an dieser Intervention lag in drei wesentlichen Punkten: 1. Sie sollte dem Staatengleichgewicht in Europa zu Deutschlands Vorteil gereichen. 2. Auch die deutsche Stellung in China selbst, vor allem wirtschaftliches, geostrategisches und „kulturelles“ Interesse, sollte gewahrt werden. 3. Sie war die erste Gelegenheit nach ‘70/’71, die militärischen Stärken des deutschen Reiches mit einem groß angelegten Feldzug vor der Weltöffentlichkeit zur Schau zu stellen. Deutschland erschien mit der militärisch größten Stärke und blieb auch am längsten, bzw. verringerte die Zahl der Soldaten im Gegensatz zu anderen Verbündeten nicht. Waldersee hatte nominell das Oberkommando über ca. 90.000 alliierte Soldaten. Das deutsche Militär dominierte die Kriegsführung auch, indem das Oberkommando der alliierten Armee nur aus deutschen Offizieren bestand. Japan und Russland akzeptierten Waldersees Oberbefehl nur eingeschränkt. USA und Frankreich verweigerten sich immerhin.

Strafexpeditionen
Von August 1900 bis Mitte 1901 wurden Besatzungszonen um Beijing, Baoding und Tianjin errichtet. Waldersee, der sich despektierlicherweise in den kaiserlichen Gemächern der Verbotenen Stadt eine Residenz eingerichtet hatte, organisierte Strafexpeditionen zur Bestrafung der Boxer. Qingdao war dabei einer der Nebenschauplätze. Hier wurde eine Expeditionsarmee gegründet, die den Widerstand aufrührerischer Dörfer gegen den Eisenbahnbau in Shandong unterdrücken sollte. Zwischen Dezember 1900 und Mai 1901 fanden 53 solcher Expeditionen statt, davon 35 mit ausschließlich deutschen und eine mit deutschen und französischen Soldaten. Die chinesische Bevölkerung empfand die deutsche Kriegsführung als besonders brutal, kriminell oder grausam. Waldersee befand, Strafexpeditionen seien das quasi letzte Mittel, der Frustration der zu spät gekommenen Soldaten entgegenzuwirken. Weder Untätigkeit, Aufräumarbeiten oder Exerzierübungen dienten als Ventil für ihre Erwartungen an militärischen Ruhm oder die mitgebrachte Wut. Deutsche Offiziere beschwerten sich in der Tat darüber, dass sie ein zu kleines Gebiet auszunehmen hatten. Waldersee bezweckte die Strafexpeditionen auch mit der Unterwerfung des Kaiserhofes. Wann immer der Hof alliierte Forderungen nicht einhalten würde, sei der militärische Druck zu erhöhen.
Bei größeren Expeditionen war Waldersee auf Kooperationen der alliierten angewiesen. Bei kleineren, die aufgrund von „Zwischenfällen“ gemacht wurden, nannte es sich „Vergeltungsmaßnahme“ und so konnten sie allein schnell durchgeführt werden. Solche fanden also ungleich häufiger statt und Offiziere und Unteroffiziere hatten relativ freie Bahn.
Während britische und US-amerikanische Offiziere seit August immer wieder Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Strafexpeditionen äußerten, in nur wenigen Fällen aus humanitären Gründen, war diese Form des militärischen Vorgehens die für die deutschen Truppen dominante. Das unterschiedliche Vorgehen der Truppen orientierte sich auch an politischen Vorgaben. Im Gegensatz zu anderen hatte das deutsche Militär keine Informationspflicht oder Weisungszwang von Seiten der Politik und konnte so handeln, wie es ihm passte. Zwar unterschied sich die Form der Gewaltanwendung der deutschen Truppen kaum von anderen - mit Ausnahme der US-Truppen, denen das Niederbrennen verboten war. Sie stehen allerdings durch die hohe Zahl der Strafexpeditionen und ihren verspäteten, nicht mehr kriegsentscheidenden, also tatsächlich vor dem chinesischen Gegner Rache- und in der internationalen Konkurrenz Machtdemonstrations-gesteuerten Einsatz brutal hervor. Standgerichtliche Erschießungen waren als Idealfall festgehalten. Wie Boxer zu erkennen seien, hatte so oder so zweifelhafte Grundlagen. Allgemeinverdächtigungen führten zu Nervosität und nochmaliger Verschärfung der Behandlung der Bevölkerung, bis jeder Chinese, der eine Waffe in der Hand hielt, sofort niedergemacht werden sollte. Dies setzten deutsche Truppen in die Tat um, auch an Ortschaften, die zuvor bereits durch andere Truppen ausgenommen worden waren. Sie verübten an zahlreichen Orten Plünderungen, Requisitionen genannt, Geiselnahmen, Verschleppungen, Hinrichtungen, Vergewaltigungen und Massaker. Meist wurden die Ortschaften zum Schluss niedergebrannt.
Waldersee hat etwa für den Rückzug einiger Kolonnen von Baoding angeordnet, dass jede Gewalt gegenüber friedliebenden Personen und auch Plünderungen zu unterlassen seien, was über den Hinweg Bände spricht. Die Orte Yongqing, Liangxiang und Yangcun sind weitere Beispiele. Auch gab es Rekrutierungen zu Zwangsarbeit, und den Offizieren hatte stets Tee serviert zu werden. Es gab, so wie es in der Hunnenrede des Kaisers hieß, keine Gefangenenlager. Gefangene wurden nicht gemacht.

Ausgang
Der kriegerische Konflikt fand am 7. September 1901 im sog. Boxerprotokoll sein formales Ende. China als Staat hatte sich angeblich der Verbrechen gegen das Völkerrecht, Humanität und Zivilisation schuldig gemacht. Die Artikel des Boxerprotokolls verlangten eine Entschuldigung des Kaiserhauses gegenüber Japan und Deutschland wegen der Ermordung der Gesandten von Ketteler und Sugiyama. Am Ort von Kettelers Tötung musste ein Sühnemahnmal errichtet werden. Es wurden Entschädigungszahlungen an die Alliierten in Höhe Chinas dreifachen Jahreshaushaltes festgelegt. An diesen wurde bis 1942 abgezahlt.

Die Verwaltung der Städte nach dem Boxerprotokoll
Nach dem Boxerprotokoll war Chinas Besetzung bei weitem nicht beendet. Tianjin und Beijing wurden in internationale Sektionen aufgeteilt. Beide Städte waren zu Schutt und Asche verwüstet, von Kunstschätzen beraubt und fast unbevölkert. Im japanischen Sektor in Beijing füllten sich zuerst wieder die Straßen, da Japan von Anfang an Händlern Schutz geboten und mit Vertrauen bildenden Maßnahmen begonnen hatte.
Waldersee strebte sofort bei Ankunft in Beijing an, eine einheitliche Verwaltung zu installieren, die von einer militärischen Hoheit bestimmt werden sollte. Er ließ im Dezember 1900 einen alliierten Militärausschuss bilden, von dem dann Bestimmungen für die besetzten Sektionen Beijings proklamiert wurden. Die Verordnungen orientierten sich scheinbar an der in der deutschen Kolonie geltenden sozialen Reglements, die die verbliebene Bevölkerung zusätzlich einschränkten und bedrohten. Auch hiernach durfte kein*e Chines*in nach 20h ohne Laterne und ohne Grund auf die Straße – und nie mehr als 3 gemeinsam. „Im Falle der Widergesetzlichkeit hat sich der Chinese selbst zuzuschreiben, wenn er durch Waffengewalt bezwungen oder niedergemacht wird.“ (Artikel 2).

Besonders grausig lesen sich die Bestimmungen im Gesundheitswesen, nach denen die ersten Bordelle in Beijing im November wiedereröffnet werden sollten, im Bewusstsein darüber, dass die Mehrheit der Frauen der chinesischen Bevölkerung in diesem wie in jedem Krieg vergewaltigt wurde. Viele begingen danach oder schon vor Eintreffen jedweden Militärs (auch kollektiv) Suizid. Eines der für das Militär notwendigen Ventile der mitgebrachten Aggression war damit nicht mehr nur unter Stillschweigen geduldet, sondern legalisiert.

Nach dem sog. Boxeraufstand trat die Qing-Dynastie ihre letzten Jahre an.

Die Erzählung über die deutschen „Ostasienkämpfer“, sowie die Frage nach der Legitimität der deutschen Beteiligung im Boxerkrieg waren auch nach großen Debatten im Reichstag, etwa um den Inhalt der „Hunnenbriefe“, wie die Feldpost aus der Zeit rasch genannt wurde, auch nach der verheerenden Plünderung Beijings, auch nach internationaler Kritik am deutschen Reich ungebrochen mehrheitlich positiv. Im Übrigen sind nach S. Kuß (2010) im Zusammenhang mit Strafverfahren bezüglich der deutschen Kolonialgebiete keinerlei Militärgerichtsakten aufzufinden. Die beleidigte deutsche Seele konnte sich tiefer in romantischem hasserfülltem empfundenen nicht-verstanden-Seins eingraben und damit auf den Ersten Weltkrieg vorbereiten. Qingdao war 1914 verloren.

Jetzt
Seit einiger Zeit schon hat eine Initiative der Arbeitsgruppe um Hamburg Postkolonial, eine Debatte um die Umbenennung der „Walderseestraße“, benannt nach dem oben vorgestellten Feldmarschall, in Hamburg Othmarschen, angestoßen. Eine Diskussionsveranstaltung im Bürgerhaus Othmarschen im April diesen Jahres verlief wie zu erwarten mehr als gemischt. Die Tagespresse hat dies spärlich begleitet. FSK wird das hoffentlich nachholen. Hier hat sich – wie aus dem Gesangbuch für das deutsche Militär, kolonialen Postkarten oder den Reden Wilhelms II abgeschrieben wirklich alle tradierten Erzählstränge wiederholend - gezeigt, dass und auf welche auch immer wieder variierbar sophistische Weise sich ein deutsches Geschichtsverständnis und Verständnis von Nation, sogar humanitas oder Gemeinde an einem einzigen Straßenschild abladen [U.W.] kann.

J // nMaCh

Literatur:
Cohen, Paul A. (1997): History in three keys. The Boxers as event, experience and myth, New York
Esherick, Joseph W. (1987): The Origins oft the Boxer Uprising, Berkeley, L. A., London
Guo, Heng-yü (1986): Von der Kolonialpolitik zur Kooperation. Studien zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen, München
Kuß, Susanne (2010): Deutsches Militär auf kolonialen Kriegsschauplätzen. Eskalation von Gewalt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin
Leutner, Mechthild; Mühlhahn, Klaus [Hg.] (2007): Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901, Berlin
Mombauer, Annika (2003): The Kaiser. New research on Wilhelm II's role in imperial Germany. Cambridge, New York

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