Stimmen aus der Gruft – Plädoyer fürs Unheimliche. Diskussion und Erfahrung als kollektive Prozesse.

Güncel Radyo sendet wieder, eine Entwicklung, die wir ausdrücklich begrüßen. An den inhaltlichen Gründen, uns nicht an Treffen der Anbieter*innengemeinschaft (ABG) zu beteiligen, hat sich indes nichts geändert. Es wird außerdem sehr deutlich, dass die Wahrnehmung eines Konfliktes im FSK als „unverständlich“, „komplex“ oder „wahnsinnig vielschichtig“ Sendende daran hindert, sich an Diskussionen im Freien Sender Kombinat zu beteiligen. Insofern freuen wir uns, dass einige Sendende trotzdem in die Debatte eingestiegen sind.

Aus unserer Sicht ist der Konflikt auch nicht so komplex, wie es zuerst den Anschein haben mag. Der Konflikt findet entlang zweier Konfliktlinien statt, die inhaltlich eigenständige Fragestellungen, aber doch in vielerlei Hinsicht miteinander verwoben sind. Diese Verwobenheit mag als Verworrenheit erscheinen, im Folgenden also ein Versuch, diese Verworrenheit zu entwirren.

Zur Verständlichkeit wird der Text dabei in folgende Abschnitte gegliedert:

I. Mehrheit, Minderheit und Anilar FM

II. „Eine Klarstellung“ – die autoritäre Technik des fait accompli

III. Zur Genese der Strukturen im FSK

IV. Das Faktische statt der Auseinandersetzung um Fakten und Kollektivität

V. Integration und Desintegration von Konflikten im FSK


I. Mehrheit, Minderheit und Anilar FM

Im vergangenen Jahr eskalierte ein Konflikt über die Sendung Anilar FM. Der Konflikt bestand schon länger, einige türkischsprachige Sendende und Hörer*innen kritisierten die Sendung immer wieder für nationalistische Inhalte. Zur Eskalation des Konfliktes führte die Einladung und Belobigung der faschistischen Partei MHP in den Räumen des FSK.

In diesem Konflikt wurde deutlich, dass es zur Lage in der Türkei und zum Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft im FSK offenkundig sehr unterschiedliche Auffassungen gibt, aus denen sich auch unterschiedliche Auffassungen über die Konsequenzen im Umgang mit Anilar FM ergeben haben. Die Gruppe Radio Loretta betonte die Notwendigkeit, Minderheiten im FSK eine Stimme zu geben, gerade in Anbetracht der Morde des NSU.

Die dahinterstehende Logik wurde von einer Assoziation aus Teilen der Radiogruppe projekt_r, kritischen Hörer*innen und nicht in Radiogruppen organisierten Sendenden im FSK nicht geteilt. Dieser Zusammenschluss, der später meist als „Schafspelze“ tituliert wurde, verfasste das Kritikpapier „Ohne Schafspelz im FSK – Die Grauen Wölfe“ und fokussierte den Punkt, dass es paternalistisch sei, türkische Nationalist*innen vorrangig als Teil einer unterdrückten Minderheit zu betrachten, dass die ganze Sache deutlich vielschichtiger sei und forderte eine solidarische Parteinahme mit denen, die von türkischen und deutschen Nationalist*innen bedroht sind.

Geprägt durch die Wahrnehmung, mit dieser Einschätzung in den schlechtbesuchten formellen und eingefahrenen informellen Entscheidungsstrukturen im FSK kein Gehör zu finden, hat diese Gruppe öffentlich zu einer Vollversammlung von Sendenden, Hörenden und dem solidarischen Umfeld des FSK eingeladen, um den Umgang mit Anilar FM inhaltlich diskutieren zu können. Dem vorausgegangen war die Verweigerung, das Kritikpapier der Gruppe im transmitter abzudrucken, um die Auseinandersetzung für eine größere Öffentlichkeit transparent zu gestalten.

II. „Eine Klarstellung“ – die autoritäre Technik des fait accompli

Erst am Tag der öffentlichen Vollversammlung äußerte Radio Loretta sich erstmals umfassend zum Streitthema. Das Papier, das Radio Loretta auf der öffentlichen Vollversammlung vorlas, trug den Titel „Eine Klarstellung“. Dabei erscheint schon der Blick auf den Titel des Papieres äußerst aufschlussreich, denn eine „Klarstellung“ bildet den Schlusspunkt einer Debatte, anstatt in sie einzusteigen. Damit hebt sich die Klarstellung schon begrifflich von der Stellungnahme ab, die die Existenz verschiedener inhaltlicher Positionen anerkennt und deren kritische Diskussion für notwendig hält. Das Papier, das sich auf der Website des FSK nachlesen lässt, äußert sich wenig zum Gegenstand der Kritik und probiert in weiten Teilen die Kritiker*innen als Lügner*innen und die Kritik als „Palastrevolte“ abzutun.[1]

Durch den Titel und die Veröffentlichungspraxis bedient sich Radio Loretta einer Technik, die Adorno in den „Studien zum autoritären Charakter“ als die Fait-accompli-Technik analysiert und beschrieben hat und deren primärer Inhalt darin besteht, Streitfragen als bereits entschieden zu behandeln.[2] Diese Technik nutzen zu können, bedarf verschiedener Voraussetzungen, die nicht auf die Kraft des besseren Argumentes, sondern auf die glaubwürdige Autorität der Sprechenden vertrauen. Eine dieser Voraussetzungen ist es, der eigenen Äußerung den Anschein des Offiziellen zu verleihen.[3]
In der Auseinandersetzung um Anilar FM gelang dies Radio Loretta durch verschiedene Methoden. Der Abdruck des Kritikpapiers der „Schafspelze“ im transmitter, der ja Programmzeitung und Debattenorgan des FSK sein sollte, wurde verweigert. Die Kritiker*innen haben ihre Texte, mangels Zugang zur offiziellen Homepage des FSK, auf eine eigens erstellte Website gestellt, der Verweis auf diese Website wurde vom offiziellen Twitter-Account des FSK postwendend wieder gelöscht.[4]

„Eine Klarstellung“ hingegen wurde auf der offiziellen Website des Freien Sender Kombinats erstveröffentlicht und darüber automatisiert auch auf Twitter und Facebook geteilt, ergänzt um das Logo des FSK. Dies erweckte den Anschein, viel eher als die Kritiker*innen für das ganze Projekt zu sprechen.

III. Zur Genese der Strukturen im FSK

Die Möglichkeit, Standpunkte mit offizieller Autorität aufzuladen und so die inhaltliche Debatte zu verweigern, lag dabei nicht zufällig bei der Radiogruppe Loretta, vielmehr ist sie als Ergebnis über Jahre gewachsener Strukturen im Freien Sender Kombinat zu verstehen, in deren Endergebnis Entscheidungsprozesse und inhaltliche Bestimmungen letztlich die Sache von sehr wenigen verblieben.

Seinen Beginn nahm dieser Prozess mit Auseinandersetzungen die im Freien Sender Kombinat zu Beginn der 2000er Jahre über antisemitische Sendeinhalte geführt worden sind. Diese sollen hier deshalb noch einmal in aller Kürze nachzuzeichnen werden. Beginnend mit einem Konflikt um antisemitische Stereotype in einer Sendung der „Freunde der guten Zeit“, zog sich der Konflikt über etwa vier Jahre und wurde am schärfsten mit der Radiogruppe Forum Radio geführt. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, ist die Radiogruppe Forum Radio, in der sich linke Antisemit*innen organisiert hatten, im Zuge dieser Auseinandersetzung nicht formal aus dem Freien Sender Kombinat ausgeschlossen worden. Vielmehr war es, trotz einer breiten Debattenbeteiligung und einer Vielzahl fundierter Kritiken an Forum Radio nicht möglich, die Radiogruppe mit der satzungsgemäß notwendigen Mehrheit aus dem FSK auszuschließen. In Anbetracht dieses Scheiterns verließen die Hamburger Studienbibliothek und eine Vielzahl der in ihr Aktiven das Freie Sender Kombinat als passive Anbieterin, weil „jede praktische Sanktion gegen antisemitisches Agieren explizit ausgeschlossen wird, weil sie ›das Projekt‹ gefährden könnte.“ Es sei „genau dieses Weitermachen um jeden Preis, das Aufgeben jedes politischen Anspruchs, jedes Sinns und Zwecks der eigenen Praxis jenseits des bloßen Machens um seiner selbst willen, das das Freie Radio am linken Projekt zugrundegehen lässt.“[5] Mit der Hamburger Studienbibliothek gingen auch Aktive aus anderen Radio- und Arbeitsgruppen im FSK, etwa die damalige transmitter-Redaktion, die Sportredaktion und die Computer-AG.

Bereits ein Jahr zuvor ging die Radiogruppe St. Paula und begründete dies im Text „Es lebe die Mehrheit?“[6] Während Radio St. Paula zu den Auseinandersetzungen um Antisemitismus keine klare Haltung entwickelte, war das Papier insofern äußerst hellsichtig, als dass die Möglichkeit des politischen Scheiterns der Radiostrukturen zumindest erkannt wurde.

Dass es trotzdem gelang, die linken Antisemit*innen aus dem Radio zu drängen und das FSK zu einem Projekt zu machen, das lange Jahre eine wichtige Rolle in der Reflexion linken Antisemitismus einnahm, ist also bemerkenswert – auch wenn anzumerken ist, dass die Reflexion linken Antisemitismus nach der Antisemitismusdebatte zu verflachen begann und stark von dieser zehrte. Der Preis mit dem dieses Gelingen bezahlt wurde, hat den Grundstein gelegt, für die Struktur, wie wir sie heute vorfinden, in der sehr wenige, sehr Aktive den Gang der Dinge weitgehend bestimmen.

Diese Problematik greift die Radiogruppe projekt_r in ihrer Gründungserklärung „Freies Radio und Wir“ im Januar 2008 auf: „Viele als Grundkonsens vorausgesetzte Standards (wie die üblichen Anti(anti)ismen) sind, wie wir immer wieder feststellen können, weder Grundkonsens noch durchgesetzt. Noch ist der Wille zu einer kritischen Auseinandersetzung darüber vorhanden. Generell finden inhaltliche Auseinandersetzungen kaum statt, oder eben nur mit den paar ‚üblichen Verdächtigen’, die auf dem Treffen der Anbieter_innengemeinschaft (ABG) auftauchen. Dieses Gremium als entscheidende Gewalt über alle wichtigen Vorgänge ist regelmäßig nicht einmal beschlussfähig, da einige Radiogruppen entweder faktisch nicht existent oder nicht wahrnehmbar sind oder nur von einzelnen Aktiven aufrechterhalten werden.“[7]

Mit der Aufnahme von projekt_r sind immerhin für einen kurzen Zeitraum wieder mehr als die satzungsgemäß vorgeschriebenen drei Radiogruppen im Freien Sender Kombinat aktiv.

Im Jahr 2011 zieht sich dann die Radiogruppe Stadtteilradio aus den Strukturen des FSK zurück. Vordergründig geht es beim vorläufigen Ausscheiden von Stadtteilradio um die Aufnahme der Jüdischen Gemeinde Pinneberg als passiver Anbieterin. Die Jüdische Gemeinde soll auf Vorschlag von Radio Loretta und Teilen von projekt_r den vakanten Platz der HSB als passive Anbieterin des Freien Sender Kombinats einnehmen. Stadtteilradio plädiert dafür, wenn eine neue passive Anbieterin aufgenommen wird, auch einen kritischen Blick auf den desolaten Zustand der Strukturen und die zentrale Position einiger Personen darin zu werfen und diese grundsätzlich zu überdenken. Stadtteilradio stimmt für die Aufnahme der Jüdischen Gemeinde, verlässt aber dennoch die Strukturen, weil die harten Vorwürfe gegen die Aktiven – nicht nur aber auch – im Zuge dieser Auseinandersetzung für diese nicht mehr zu ertragen sind.

Im gleichen Jahr geht mit den Aktivist*innen des re[h]tro-Frauentages auch ein großer Teil der Gruppe UniRadio/Academic Hardcore. Die re[h]tro-Frauen erklären die von projekt_r ausgehende Initiative mehr oder weniger für gescheitert und schreiben: „freies radio setzt subjekte voraus, denen aneignung im sinne einer medienkritischen praxis am/im herzen liegt. subjekte, die in der lage sind, über die konkreten politischen auseinandersetzungen und alltäglichen nöte hinaus emanzipatorisches begehren zu denken. diese aneignung freien radios ist nicht ohne weiteres möglich, sie muss möglich gemacht werden – und zwar durch diejenigen, die sie bereits erfahren haben. sie müssen die geschichte freien radios, seine bedingungen und möglichkeiten weitergeben. dabei geht es auch darum, die ressourcen des freien radios – die frequenz, die studio- und büroräume, die technik – umzuverteilen und bereit zu sein, das projekt immer wieder neu zu gestalten.“[8]

Der Abgang von re[h]tro ist außerdem ein weiterer Schritt auf dem Weg des FSK zum „Männersender“. Die für den quotierten Vorstand benötigten Frauen sind regelmäßig keine aktiven Sendenden mehr, geschweige denn aktiv in die Vorstandsarbeit involviert. Der Anteil an Frauen, die tatsächlich auch in den Strukturen aktiv sind, ist verschwindend gering, die Technik ist reine Männersache und von neun Leuten im Vorstand sind immerhin zwei keine Männer – und eine davon nur gewählt, weil die Quotenregelung es so fordert.

projekt_r als Radiogruppe besteht zwar weiter, aber auch hier ziehen sich viele Aktive, die ähnliche Erfahrungen machen, wie die re[h]tro-Frauen peu a peu aus dem Freien Sender Kombinat zurück. Der letzte größere Rückzug von Aktiven aus der FSK-Struktur ist das Ausscheiden der letzten transmitter-Redaktion vor etwa zwei Jahren. Danach wird der transmitter von einem Aktiven von Radio Loretta gestaltet, Treffen und Beteiligungsmöglichkeiten an der transmitter-Redaktion sind seitdem nicht mehr senderöffentlich. Ein ABG-Beschluss, den fehlenden kollektiven Entstehungsprozess im transmitter auch zu kennzeichnen, wird von der Redaktion nicht umgesetzt.

IV. Das Faktische statt der Auseinandersetzung um Fakten und Kollektivität

Das Freie Sender Kombinat befindet sich derzeit also in einem Zustand, in dem die wichtigsten Gremien nur äußerst unzureichend funktionieren und faktisch ein Großteil der Entscheidungsprozesse bei Mitgliedern der Radiogruppe Loretta liegt. Dennoch steigen gerade an der Stelle der Auseinandersetzung um strukturelle Fragen viele Sendende aus der Debatte aus, obwohl die strukturellen Fragen für eine inhaltliche Debatte notwendig sind. In der Broschüre „Form, Struktur & Konzept“, einer Art Grundlagenpapier des FSK, wird eine zentrumslose Struktur betont, die durch eine Vielzahl an Radiogruppen gewährleistet sein soll und dadurch einem „closed shop“-Effekt vorbeugen soll.[9] Der Zugang zum Sender solle über die Radiogruppen erfolgen.

Die Radiogruppen waren ursprünglich als Instanzen gedacht, die Konflikte innerhalb der Struktur des FSK vermittelbar machen. Die Radiogruppen sollten sich entlang politischer Konfliktlinien organisieren und über die Struktur dazu verdammt sein, diese Konflikte auch auszutragen, in dem sie für sich und ihre politischen Positionen werben und damit die Auseinandersetzung produktiv für den Sender als gesamtes Projekt machen. Mit jedem größeren personellen Aderlass ist die Bedeutung der Radiogruppen allerdings geschrumpft, inzwischen dürften mindestens 70% der Sendenden ohne eine Radiogruppe sein. Dementsprechend ist auch der Zugang zum Sender ein anderer und findet häufig über die Freien Sender Kurse oder informelle Absprachen statt und nicht über Radiogruppen oder Redaktionen.

Dieser Bedeutungsverlust der Radiogruppen führt dazu, dass sich statt einer zentrumslosen Struktur das FSK weitgehend zentralisiert hat und andersherum führt die zentralisierte Struktur zu einem weiteren Bedeutungsverlust der Radiogruppen – deren politische Bedeutung sich den Sendenden nicht mehr unmittelbar ergibt. Dass Anilar FM sich der „Leitung“ des Senders und nicht der ABG gegenüber rechenschaftspflichtig fühlte, war der vielleicht stärkste Ausdruck dieser Entwicklung. Durch diese zentralisierte Struktur wird es möglich, dass inhaltliche Konflikte nicht auf der Ebene der potentiell produktiven Auseinandersetzungen innerhalb einer zentrumslosen Struktur wahrgenommen werden, sondern als ein Angriff auf dieses Zentrum, dass dabei in der Wahrnehmungsebene häufig mit dem Gesamtprojekt in eins gesetzt wird.

Diese Wahrnehmung durch viele Sendende impliziert dabei das Anschmiegen an die gewachsene Autorität und entkräftet das bessere Argument. Das macht es bequem möglich, die inhaltlichen Fragen auszublenden oder als nebensächlich zu betrachten. Nur so ist es möglich, dass eine inhaltliche Kritik als Machtkampf entpolitisiert oder gleich als Angriff auf den Sender verstanden wird. Die normative Kraft des Faktischen wird akzeptiert und das schlechte Faktische mit denen gleichgesetzt, die es kritisieren. Im Verweis auf die vermeintliche Undurchsichtigkeit, wird das Faktische mit „gerade dem Nimbus […] umgeben, gegen den die Idee des Faktischen ursprünglich gemünzt war“ und damit „die Niederträchtigkeit von heute durch die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert“.[10] [11] Hier ist eine bequemliche Regression zu einer vermeintlichen Mitte zwischen diesen „Polen“ hin zu beobachten. Diese Wahrnehmung erst macht es möglich, inhaltlicher Kritik durch den ausweichenden Verweis auf Formalstrukturen und deren Verletzung zu entgegnen, anstatt sich auseinanderzusetzen.

Dabei ist die Auseinandersetzung um kollektive Strukturen und Gründe ihres Scheiterns die zentrale Bedingung für die Möglichkeit inhaltlicher Debatten im Freien Sender Kombinat. Die Auseinandersetzung um Strukturen hat aber auch eine eigenständige Qualität: Denn nur, wo sich Ohnmachtserfahrungen der umgebenden Gesellschaft nicht spiegeln oder sogar potenzieren, wird Freies Radio als gestaltbarer, kreativer und begehrenswerter Raum, aber auch als Raum kollektiver Verantwortungsübernahme erfahrbar und wirkmächtig. Dieser Wunsch die Entfremdung gegenüber dem technischen und administrativen Apparat aufzuheben, zieht sich wie ein roter Faden durch viele Texte zur Lage im FSK, von projekt_r, über re[h]tro bis zum „How to use the FSK? Guide for young revolutionaries“.[12]

In der Entfremdung und den Ohnmachtserfahrungen spiegelt sich die bürgerliche Medienlandschaft und das Abliefern der Sendungen gewinnt einen warenförmigen Charakter, mit dem das Spielerische und das Experimentelle häufig auf der Strecke bleiben. Walter Benjamin schreibt, „daß einen Produktionsapparat zu beliefern, ohne ihn - nach Maßgabe des Möglichen - zu verändern, selbst dann ein höchst anfechtbares Verfahren darstellt, wenn die Stoffe, mit denen dieser Apparat beliefert wird, revolutionärer Natur scheinen.“[13] Doch zumindest im Papier von re[h]tro wird deutlich, dass sie vor Freiem Radio stehen, wie Harry Potter vorm Spiegel Nerhegeb.[14] Die Möglichkeiten Freien Radios können erahnt werden, erscheinen aber im FSK nicht ansatzweise einlösbar und führen letztlich zur Resignation.


V. Integration und Desintegration von Konflikten im FSK

Wie aufgezeigt, endeten größere Konflikte im FSK bislang meist desintegrierend, also damit, dass Sendende das Projekt verlassen haben und die verbliebenen Aktiven immer weniger wurden. Viele Sendende haben diese Entwicklung möglicherweise gar nicht mitbekommen, weil das technische Funktionieren des Senders trotzdem sichergestellt werden konnte. Lediglich die inhaltliche Debattenfähigkeit hat das Projekt FSK mit jedem Rückzug stärker eingebüßt. Dieser Prozess verlief nicht linear und nicht gänzlich ungebrochen, aber doch kontinuierlich.

Die öffentliche Vollversammlung im letzten Jahr hat ein kurzes Aufflackern einer gewissen Debattenfähigkeit im Sender dadurch markiert, dass sie viele Sendende aktivieren konnte, sich an der Auseinandersetzung zu beteiligen und auch durch Günther Jacobs umfangreiche Recherche zu Anilar FM entbrannte eine rege Diskussion, warum die Sendung über so lange Zeit im FSK sendete.

Dennoch hat sich an den grundlegenden Schwächen der FSK-Struktur nicht viel geändert und Aktive aus der „Schafspelz“-Fraktion beklagen den Versuch, sie aus dem Radio zu drängen, den Konflikt also wieder nicht auszutragen, sondern über Desintegration auszusitzen. Die Aussetzung von Güncel Radyo, die von projekt_r und Stadtteilradio als unzureichend begründet kritisiert wurde[15], stellte eine weitere Etappe in der Auseinandersetzungsunfähigkeit dar und zielt gleichzeitig auf einen der Kritiker*innen von Anilar FM und Kritiker der Strukturen im FSK.

„In einer politischen, sozialen und kulturellen Situation, in der alle Kräfte darauf gerichtet sein müssten, das FSK zu einer öffentlichen Instanz zu machen, deren Stimme zusehends gehört wird und Einfluss gewinnt“, um aus einer E-Mail zu zitieren, ist es also notwendig diese Streitigkeiten auszutragen und gleichzeitig auszuhandeln, wie eine Struktur aussehen kann, die inhaltliche Streitigkeiten integrieren kann, ohne die Streitenden zu desintegrieren. Nur so kann die notwendige, permanente und kollektive Aushandlung von Inhalten gelingen, die für ein Freies Radio essentiell ist. Ansonsten wird Brechts Utopie des Radios als Kommunikationsapparat weiterhin permanent zu Grabe getragen.

Oder, wie neulich jemand sagte: FSK – das heißt „furchtbar schwieriger Kompromiss.“
Sich auf die Suche nach diesem Kompromiss zu begeben, laden wir alle ein.

projekt_r & Stadtteilradio
Oktober 2017

Quellennachweise:
[1] Radio Loretta: Eine Klarstellung. 2016. http://www.fskhh.org/blog/2016/09/30/radio_loretta_eine_klarstellung.

[2] Adorno, Theodor. W.: Studien zum autoritären Charakter. Suhrkamp, 1973, S. 395ff.

[3] Ebenda: S. 399.

[4] Unbekannte*r Autor*in: Die Grauen Wölfe/MHP im FSK (Freies Sender Kombinat) Debatten-Dokumentation. 2016/17. http://fsk-hh.jimdo.org/.

[5] HSB: Der Wille zum Wabbeln. Warum die Hamburger Studienbibliothek nicht mehr Teil eines Freien Sender Kombinats sein kann. 2003. http://studienbibliothek.org/texte/FskAustritt-transmitter.pdf.

[6] Radio St. Paula: Es lebe die Mehrheit? 2002. https://www.nadir.org/nadir/initiativ/radiostpaula/texte/stellungnahme_3....

[7] projekt_r: Freies Radio und Wir. In: transmitter 01/2008. S.26f. http://www.fsk-hh.org/files/tm_0801.pdf.

[8] re[h]tro: sinn & sinnlichkeit. warum der re[h]tro-frauentag nicht länger teil des fsk ist. 2011. http://www.fskrehtro.net/reh.pdf.

[9] Freies Sender Kombinat: Form, Struktur & Konzept. 1994. S.26. https://issuu.com/fskhh/docs/form__struktur__konzept.

[10] Adorno: Studien zum autoritären Charakter. S. 397.

[11] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. 1844. http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_378.htm. Absatz/Seite 380.

[12] Redaktion Quergelesen: The How-To-Use-The-FSK-Guide For Young Revolutionaries. In: McGuffin-Kassiber 01/2004. http://www.fsk-hh.org/files/The%20How-To-Use-The-FSK-Guide%20For%20Young....

[13] Benjamin, Walter: Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 27. April 1934. https://www.texturen-online.net/methodik/benjamin/autor-als-produzent/.

[14] Rowling, Joanne K.: Harry Potter und der Stein der Weisen. 1998. S.212ff.

[15] Stadtteilradio/projekt_r: Nightmare Off Air - Gemeinsame Stellungnahme von projekt_r und Stadtteilradio zu den Zuständen im FSK. 2017. http://www.fsk-hh.org/blog/2017/09/13/nightmare_off_air_gemeinsame_stell....

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