Das Radiokaninchen

Das Radiokaninchen

Es gibt diese eine besondere Erscheinung: Im Job wissen die einen sicher, dass nur sie viel und gut arbeiten, die Kolleg_innen aber faul und doof sind. In Kirchen ist der einen Gruppe sehr gewiss, dass nur sie richtig an Gott glauben, die anderen aber die heiligen Texte völlig falsch verstanden haben. Im Kaninchenzüchterverein haben die einen die richtigen und schönen Kaninchen gezüchtet, die anderen die hässlichen mit den ungleichen Ohren und falschen Fellfarben. Im Radio senden die einen richtig, die anderen falsch.

Im Job regeln sich solche Konflikte meist durch die der Arbeitswelt innewohnende Fremdbestimmung. Der Chef regelt die Situation oder die Verhältnisse zwingen die Beteiligten, sich zu ertragen.
In der scheinbar so selbstbestimmten Welt des Privaten, ist der Unmut über das sichtbar Falsche, des Ekels vor dem so offenkundig Fremden ein scheinbar privatisiertes Problem. Abhängig vom jeweiligen Stand des Verfalls, verfallen auch die Sitten im Umgang mit dem Ekel und dem Unmut. In der großen sich ihrer Wirkung bewussten Kirche ist der Dissens im richtigen Glauben noch erträglich. Im Zustand des Verfalls, der wachsenden Bedeutungslosigkeit, des umzingelt seins von Fehlgläubigkeit, ist die Reinheit und die Einheit von großem Wert. Bis hin zu der Gewissheit, dass erst, wenn das Falsche und Schmutzige, das Teuflische und Häretische aus dem eigenen, kleinen Restbereich des Einflusses verschwunden ist, wieder die Kraft und die Herrlichkeit vorhanden sein wird, Gottes reines Wort kraftvoll den Ungläubigen zu predigen.
Wenn die Kaninchenausstellungen vielzählig sind, die alten und fleischigen Sorten ihre Preise bekommen, dann ist es zu ertragen, dass die modernen Züchtungen, mit bunterem Fell und zweifelhaftem Zweck, auch Beachtung finden. Wenn aber das Kaninchen und seine Zucht, die Komplexität und Tiefe des fellbezogenen Wissens ihre Bedeutung verliert, die fleischigen Kaninchen gar nicht mehr gefragt sind, weil kaum einer mehr seinen Topf mit ihnen füllen mag, dafür aber bunte Wuschel als Knuddelkumpel zumindest noch einen Rest an Akzeptanz haben, dann beginnt auch im Land der Kaninchenzüchter ein ernster Streit um die Frage, welches Kaninchen ein Recht hat zu sein und ob das Angebot an falschen Kaninchen nicht der offenkundige Grund für die Missachtung des richtigen Kaninchens sei.
Wenn dem Radio zugehört wird, es Resonanz gibt, viel Bedeutungsraum gefüllt werden muss, dann ist es gut, wenn viele mit vielen Dingen diesen Raum füllen. Schrumpft der Raum, so wird er begehrt und strittig.
Denn wenn erst alle Fehlgläubigen aus der Gemeinde entfernt sind, dass Traditionskaninchen wieder ohne Alternative ist und aus dem Radio nur das richtige erklingt, dann wird Gott wieder gefürchtet, Kaninchen geliebt (und gegessen) und Radio gehört und beachtet werden.
Ebenso, wie es deshalb mit der Revolution nicht so recht vorangeht, weil innerhalb der revolutionären Massen zu viele falsche Genoss_innen sind. Denn wenn diese erst alle entfernt sind, dann hält den Sieg der Unterdrückten Massen niemand mehr auf.
Die postmoderne Variante des Triumpfes des richtigen Willens: Der Klassenfeind wird besiegt durch das tödliche Argument.

Die Idee, dass die Rechtgläubigen nicht bestimmen könnten, dass alle das richtige zu glauben haben, erscheint den Rechtgläubigen absurd.

Die Idee, dass die Welt keine Kaninchen mehr mag, weder essen noch halten, erscheint dem Kaninchenliebhaber unerträglich.

Die Idee, dass ich richtig und gut sende und trotzdem hört man mir nicht zu, ist unbewiesen. Und was unbewiesen ist, ist falsch.

Es gäbe vielleicht einen anderen Ansatz. Zu verstehen, dass ich ebenso wie der Mensch neben mir keine Gewissheit habe über das, was absolut und richtig ist. Tapfer weiter zu der eigenen Kaninchenliebe zu stehen, auch wenn sonst keiner Kaninchen mehr mag. Sich zu freuen, wenn unerhörtes hörbar wird, auch wenn ich selber es nicht sagen oder singen würde.
Zu akzeptieren, dass nicht das Wollen die Welt verändert, sondern das Tun.

Online hören

.



Feedback

Sendungen