Heute, 17-19 Uhr, Die surrealistische Revolution. Robert Desnos - Worte zu Überleben... in der neopostdadasurrealpunkshow

Siehe auch GWR 370, Seite 20:
Die surrealistische Revolution - Worte zum Überleben
Von Freiheit, Liebe und Widerstand. Auf den Spuren von Robert Desnos
Der am 4. Juli 1900 in Paris geborene Anarchist und Surrealist Robert
Desnos war ein bedeutender französischer Dichter, Maler und
Journalist. 1944 wurde der in der Résistance aktive Freiheitskämpfer
denunziert und von den Nazis verhaftet. Er durchlief mehrere
Konzentrationslager und musste Zwangsarbeit leisten. Am 8. Juni
1945, wenige Wochen nach der Befreiung des KZ Theresienstadt,
erlag er einer Typhuserkrankung. Eine Spurensuche von GWR-Autorin
Jorinde Reznikoff. (GWR-Red.)
„Was ich hier oder andernorts
schreibe, wird wohl im Laufe
der künftigen Jahre nur ein paar
Vereinzelte interessieren. Alle
25 oder 30 Jahre wird man in
vertraulichen Veröffentlichungen meinen Namen und einige
Textauszüge ausgraben, immer
dieselben. Die Kindergedichte
werden ein wenig länger überleben als der Rest. Ich gehöre
zum Kapitel begrenzter Neugierde. Doch wird das länger
währen als so manch zeitgenössisches Geschreibsel.“ (1) Robert Desnos, 8. Februar 1944
Desnos ahnte richtig. Und dabei erging es ihm ähnlich wie
seinem bekannteren Freund
und Mitstreiter Jacques Prévert
(vgl. GWR 367), und auch dem
später geborenen kongenialen
Boris Vian (vgl. GWR 366), dem
dritten im Bunde dieser li(e)bertären Dichter, die der mittlerweile fast erblindete 82jährige
Jean-Louis Trintignant zu rezitieren nicht müde wird. Texte
wie Vians Chanson „Le déserteur“, Préverts Gedicht „Le
Cancre“ und Desnos‘ „La Fourmis“ sind so selbstverständlich
im französischen Repertoire
aufgegangen, dass ihre Sprengkraft hinter ihrer Popularität zu
verschwinden droht. Ein Tiefergraben fördert erstaunliche
Schätze zu Tage.
„Eine achtzehn Meter lange
Ameise mit einem Hut auf dem
Kopf, das gibt es nicht, das gibt
es nicht. Eine Ameise, die einen
Karren zieht, randvoll mit Enten und Pinguinen […], das gibt
es nicht, das gibt es nicht. Und
– warum nicht?!“ (2)
Was sich so kinderleicht anhört, surrealisiert das Wissen
um die unvorstellbaren Deportationszüge im absurden Bild.
Erinnern wir uns daran, dass
gerade Kinder einen schwellenlosen Zugang zum Unbewussten haben, machen wir einen
entscheidenden Sprung in die
Vision des Robert Desnos: „Mit
dem verschleierten hellblauen
Blick eines ‚wachen Schläfers‘
[…] gehörte er zu denen, die am
meisten dazu beigetragen haben, dem Surrealismus seine
frenetische Faszination zu geben.“ (3)
Zu allen Praktiken bereit, die
einen Zugang zum Unbewussten zu öffnen versprachen, förderte er in hypnotischen Sitzungen und den des „automatischen“ Schreibens und Malens
wahrhaft prophetische Texte
und Zeichnungen zu Tage – ins
Leere führende Zugschienen,
Tode s ahnungen…
Um eine in der Lebenspraxis
direkt ansetzende Revolution,
nicht um eine verrückt-skurrile
künstlerische Ästhetik ging es
den Dadaisten und Surrealisten
in dieser Zwischenkriegszeit, in
der der wirtschaftspolitische
Kollaps radikal neue Ansätze
notwendig und möglich machte. Die Freiheit zu Terror pervertierende Tragödie der französischen Revolution hatte Desnos hellsichtig genug gemacht,
um sich gegen den Eintritt der
Surrealistengruppe um Breton
in die kommunistische Partei
Frankreichs zu stellen.
Desnos Revolte führte diesen
k o m m u n i k a t i o n s o r i e n t i e r t e n
Dichter, Maler und Journalisten
zu Radio und Film - und in spä-
terer Konsequenz zur Widerstandsgruppe „Agir“. Als
London-Korrespondent ist ihm
mit zu verdanken, dass England
den Bombenvorkehrungen der
Nazis in der Normandie zuvorkommen konnten. Auf die aktuell gebliebene revolutionäre
Parole von 1789 „La liberté ou
la mort“/ „Freiheit oder Tod“
antwortete Desnos 1927 mit seiner Schrift „La liberté ou l’amour!“/ „Freiheit oder Liebe!“.
Für Desnos war das keine Theorie, sondern Lebenspraxis.
Wenn Hilfe und Widerstand anstanden, war Desnos unwiderruflich da. Seine zuweilen kindlich-ungestüme Kompromisslosigkeit hat ihn am Ende womöglich die letzte Überlebenschance gekostet.
Am Ende meines Besuchs zeigte mir Jacques Fraenkel (4) einen noch unveröffentlichten
Brief von Youki, in welchem sie
das „peinliche“ Zeugnis eines
Kameraden von Desnos zitiert,
der miterlebte, wie letzterer sich
weigerte, in einen der Rücktransportzüge nach Paris zu
steigen, denn er wollte seine im
Lager geschriebenen Werke
wiederfinden. Diese hatte er in
einer Schokoladenbonbonschachtel der Marke „Marquise de Sévigné“ aufbewahrt; die
Schachtel war verschwunden,
wahrscheinlich hatte ein ausgehungerter Kamerad gehofft, darin etwas Essbares zu finden.
Desnos wurden indessen warme Socken geschenkt, die mit
Typhus infiziert waren…
Doch hatte sich der hungrige
Kamerad nicht ganz geirrt: Robert Desnos besaß die Kunst
und die Intuition, mit seinen
Worten zu nähren. Jacques Fr.
erzählte bewegt, wie er als kleiner jüdischer Junge in den nach
Trauer und Gefahr riechenden
Verstecken unter dem tödlichen
Schweigen seiner Eltern doppelt zu verhungern drohte. Seine Rettung war Robert Desnos.
Denn der brachte ihnen gefälschte Papiere - und Geschichten, die dem Kind bis zum
nächsten Rendez-vous Stoff
zum Träumen schenkten.
„J’écris pour donner rendezvous“ - „Ich schreibe, um mich
zu verabreden.“ Als Desnos
dann selbst in Gefangenschaft
geraten war, setzte er in den
Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern seinen Kampf für
Freiheit und Liebe mit der surrealen Energie des Wortes fort.
Nach kulturellen Vorträgen zu
Beginn konzentrierte er mit zunehmender physischer Schwä-
che seine Kraft darauf, die quä-
lenden Träume seiner Kameraden hoffnungsvoll zu deuten
und den Leidenden erlösende
Zukunftsphantasien aus den
Händen zu lesen.
Jorinde Reznikoff
Anmerkungen:
1) www.robertdesnos.asso.fr
2) Robert Desnos, La Fourmi, Chantefables. Pour
les enfants sages, Paris 1944. In : R.D., Œuvres,
Paris 199.
3) André Breton, Sur Robert Desnos, 1959. In :
Robert Desnos, L’Herne, Paris 1987.
4) Gespräch mit Jacques Fraenkel (Association
des amis de Robert Desnos) in Paris, am 1. Mai
2012, dem ich an dieser Stelle für das sur-reale
Rendez-vous danke.
Copyright und Übersetzungen aus dem Französischen Jorinde Reznikoff.

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