Stellungnahme von Hanna Mittelstädt zur Diskussion über das Manifest des Unsichtbaren Komitees

Zur Diskussion um das Manifest des Unsichtbaren Komitees erreichte uns eine Zuschrift von Hanna Mittelstädt von der Edition Nautilus. Diese Stellungnahme soll ausdrücklich einladen, über die Art und Weise der Diskussion kontrovers und konstruktiv zu debattieren.

„Der Kommende Aufstand“ als Brennglas

Nachdem ich bei zwei Veranstaltungen über das Buch „Der kommende Aufstand“ vom Unsichtbaren Komitee mit auf dem Podium saß (im Golem und im Gängeviertel), möchte ich gern ein paar Aspekte zur Rezeption und zum Nutzen des Textes anmerken, die ich für wichtig halte:

1. Die erste Veranstaltung (im Golem) erschöpfte sich sehr stark in einer stark ablehnenden und ausgrenzenden Kritik des Pamphlets „Der kommende Aufstand“ durch meine Mitdiskutierer. Durch lange Aneinanderreihungen von aus dem Zusammenhang gerissener Passagen gab es überhaupt keine produktive Diskussion, sondern die lapidare Schlussfolgerung: so ginge es aber nicht ... Ich wollte das so nicht stehen lassen und habe eine neue Veranstaltung (im Gängeviertel) initiiert, die dem Anliegen der französischen Gruppe stärker gerecht werden sollte.

Diese zweite Veranstaltung war so konzipiert, dass neben der Lesung von Passagen aus dem Text sechs weitere autonome Beiträge zum Thema Aufstand stehen sollten, die sich in irgendeiner Weise auf den Text des unsichtbaren Komitees beziehen (auf dem Podium saßen Karl-Heinz Roth, Roberto Ohrt, Niels Boeing, Lutz Schulenburg, Andreas Blechschmidt und ich, Gesprächsleitung und Lesung: Jorinde Reznikoff und KP Flügel von der neopostpunkdadashow vom Radio FSK). Ich selbst habe versucht, das historische Fenster zum Mai 68 zu öffnen, K. zu den aktuellen Aufständen, L. zu seiner persönlichen Haltung "im Aufstand", R. speziell zur Gruppe bzw. Haltung und Aktionsweise der Situationisten. A. sollte über das "aufständische Subjekt" Flora sprechen und es in Beziehung setzen zum Begriff der Kommune aus dem Manifest, N. sollte einige Hamburger Erfahrungen aus der Recht auf Stadt-Bewegung mit einbringen.
Wieder tauchte die Tendenz einer detaillierten und ausgrenzenden Textkritik auf, die ich in diesem Zusammenhang unproduktiv finde. Warum ist es für diese Kritiker so schwer, für andere sogar unmöglich, dieses Manifest als Beitrag einer französische Gruppe mit einer bestimmten Geschichte und einem bestimmten politischen und sozialen Hintergrund stehen lassen und mal grundsätzlich als ihre Äußerung zu akzeptieren? Gehört diese Gruppe nicht zum aufständischen WIR? Und gibt es nicht eine produktivere Auseinandersetzung mit so einer Gruppe, als, bei einer ersten Auseinandersetzung, an ihrem Text herumzukritisieren? Warum ist es für manche so schwer, diesen Text in Zusammenhang mit einer besonderen Situation zu lesen (die sehr gewalttätigen Aufstände in den Vororten von Paris, Sarkozy und seine Kahlschlagpolitik, die Tradition französischer Haltungen, ganz genau zu untersuchende Unterschiede zwischen der französischen und der deutschen gesellschaftlichen Lage etc.) und warum kommen diese Kritiker nicht darüber hinweg, dass diese Gruppe sich eben so ausgedrückt hat. Warum ist es nicht möglich, Kritik auf einer anschaulichen Ebene zu führen, d.h. also zu sagen: am Beispiel und an den Erfahrungen der Flora oder irgendeines anderen konkreten Projekts ist zu erkennen, dass an den und den Punkten das Kommune-Konzept des Komitees schwach ist, dass man hier darüber hinaus gehen muss, dass man dort mit dem Flora-Konzept oder ihrer Praxis oder irgendeinem anderen konkreten Projekt dahinter zurückgeblieben sein mag, aus verschiedenen Gründen.
Warum dieses - typisch deutsche übrigens - Herauspicken von einzelnen Stellen, das Hineinpressen dieser einzelnen Stellen in landläufige linke Kritikraster (Antiziganismus, Machismus, Gewaltverherrlichung)???
Auf dem Weg zu einem gesellschaftlich wirksamen WIR muss man doch die Autonomie auch anders denkender, anders handelnder, sich anders artikulierender Einzelner und Gruppen akzeptieren, solange sie die Grundlagen dessen, was man gemeinsam erreichen will, also die gesellschaftliche Emanzipation, nicht missachten.

2. Wenn dieses Pamphlet vielleicht 50.000 mal oder noch viel viel mehr, da es ja auch im Internet herunterladbar ist und wir längst nicht allen Lesern ein Buch verkauft haben, gelesen wurde, wenn es so viele Leser anspricht, weil einfach die Frustration so groß ist, dann fragt man sich doch: Was tut dieses Buch, und wer sind diese Leute, die dieses Buch diskutieren, die es als Anregung verstehen, es kritisieren, verwerfen, oder sonstwie benutzen. Diese Leute sind doch auch Teil des WIR oder können es werden. Es ist doch wichtig zu gucken, was geht in denen vor, wie können wir Bündnislinien entwerfen, und zwar auf ganz unterschiedliche Weise! Durch "Umgebungskonstruktionen" wie die Situationisten in den 50er Jahren schon vorgaben, durch einen umgehenden und bedingungslosen Freiheitsgewinn, durch das Bewusstsein eines ganz radikalen Bruchs (mit den bisher greifenden Institutionen, Repräsentationen, der Gewohnheit, der Angst vor Veränderung, der Isolierung etc.), wie immer diese großen Worte praktisch umgesetzt werden! Diese praktische Umsetzung wird jeder anders gestalten, längst nicht für jeden ist beispielsweise die Flora ein Freiheitsgewinn! Für andere sieht der Freiheitsgewinn anders aus, und ich spreche wohlgemerkt nur von einem Freiheitsgewinn, der sich im zapatistischen-libertären Sinne auf ALLE bezieht, und nicht auf Eliten oder getrennten Gruppen welcher Richtung auch immer.
Das ist zumindest für mich das Interessante und Überraschende an diesem Text.
Ich habe, als wir das Buch ins Verlagsprogramm aufnahmen, auf keinen Fall damit gerechnet, dass dieser Text so einschlägt. Ich finde aber sehr wohl, dass man sich die Chance nicht entgehen lassen sollte zu analysieren, WARUM der Text so einschlägt, und seine produktiven Schlussfolgerungen daraus ziehen sollte. Diese Schlussfolgerungen können nämlich das "aufständische WIR" durchaus erweitern, sie können ebenso unseren Horizont und unsere eigene Praxis erweitern.
Die in den beiden Veranstaltungen vorgetragene Textkritik zeugt für mich von Angst vor Verlust der Deutungshegemonie auf die Aufstände, Angst davor, sie könnten aus dem Ruder laufen, sie könnten, wenn sie die "Milieus" verlassen, irgendetwas werden - schlimmstenfalls faschistisch, mafiös, islamistisch, totalitär. Das ändert man aber keineswegs mit einem warnenden Zeigefinger. Die einzige Möglichkeit, dass "die Aufstände" freiheitlich, egalitär etc. bleiben, ist, dass die verschiedenen WIRs sich im egalitären freiheitlichen Rahmen ausdrücken und verwirklichen können. Und dass sie ihre Vielfalt ausleben können! Und ihr Wissen, ihre soziale Kompetenz und gesellschaftliche Erfahrung vergrößern! Das Scheitern des freiheitlichen Ansatzes ist immer eine Verengung, die einzige Lösung ist die Verbreiterung sowie die Ausarbeitung und das Wachstum jeder einzelnen Autonomie im gesamten Zusammenhang.
Von daher sehe ich dieses Manifest als eine Art Brennglas, in dem sich Wirkung, Anregung, Ergänzung, Veränderung, Zurückweisung verschiedener Ansätze konzentrieren.
Es liegt sehr viel in der Luft, und es gilt doch jetzt, wie natürlich immer, produktive Verbindungen zu knüpfen und den eigenen Horizont ständig zu erweitern!
Und dazu gehört offensichtlich für ziemlich viele "Suchende" dieses Komitee mit diesem Manifest.
Wir sollten die Chance nicht so gering schätzen, die in der Wirkung dieses Manifestes liegt!

Hanna Mittelstädt (Edition Nautilus)

Welches "aufständisches

Welches "aufständisches Wir" ist gemeint ?
Der Blick auf jede Neonaziseite stellt das "wir" in einen gruseligen Kontext, das "aufständische" wird dort penetrant inszeniert.

Die Frage, welches

Die Frage, welches "aufständische Wir" gemeint ist, wäre wirklich zu diskutieren. Zitieren wir mal aus der Buch-Präsentations-Ankündigung, in der das aufständische (?) wir auch vorkommt. Die von Hugo in die Diskussion gebrachte Parallele zu Neonaziseiten finde ich aber gelinde gesagt unpassend...

Niels Boeing liest aus:
Hamburg
Freitag, 2. September 2011, 21 Uhr
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BOOK-LAUNCH!
Lesung und Party
Aus der Veransaltungsankündigung:
Wie sollen wir leben? Was können wir tun? Diesen Grundsatzfragen geht Niels Boeing nach und erörtert sie nachdenklich bis kämpferisch, subjektiv bis imperativ: »Wir sind die Vielen, und wir können den neuen Beat anschlagen, der alle Macht pulverisieren wird. Wir, die Multitude. Wir werden uns erkennen, wenn wir es endlich zulassen, wenn wir unser lauwarmes Leben hinter uns lassen und es denen gleichtun, die brannten und niemals froren. ›Let’s burn!‹«

Veranstaltungsort: Butt-Club, Hafenstraße 126, 20359 Hamburg

Die teilnehmer im golem sind

Die teilnehmer im golem sind eher dafür bekannt im kopf und in ihrer vergangenheit gefangen zu sein. vielleicht ist es für sie schwer zu ertragen, dass ihre eigenen texte keinen erfolg haben.sie stammen aus einer zeit, in der linke vorredner eigene wahrheiten verkündeten und nicht mitbekamen, dass ihnen massenweise die zuhörer wegliefen. man kan den "kommenden aufstand" kritisieren aber er hat so viel erfolg weil er einen anstoss für eigene fantasie bietet, keine personale selbstdarstellung zelebriert und endlich mal lebendigkeit in die sprache bringt.die verfasser haben mehr aus der vergangenheit gelernt als die diskutanten auf dem golem podium.

es ist halt nicht alles

es ist halt nicht alles emanzipatorisch, was sich "links" oder widerständig nennt. dieses ewige suchen nach dem "wir", nach der bewegung, nach dem subjekt verhindert jedes richtige nachdenken über die verhältnisse, in denen wir stecken. frau mittelstädt und viele andere linke haben einfach angst davor, zu viel nachzudenken und bei ihren bündnispartner_innen zu genau hinzusehen, weil sie insgeheim ahnen, dass ihr raunen von der kurz bevorstehenden revolution der verhältnisse nix als blanker unsinn ist. vielleicht wäre es gut, sich mal mit reaktionären tendenzen innerhalb des manifests und innerhalb der linken zu beschäftigen... antiamerikanismus, dezisionismus, antisemitismus, nationalismus, zivilisationsfeindschaft etc. all überall!

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