Der Jahrestage wegen: Vom ertragreichen deutschen Boden und seinen Nährstoffen

Wir dokumentieren den Vortrag des Café Morgenland "Vom ertragreichen deutschen Boden und seinen Nährstoffen" gehalten am 26. Oktober 2011 in der Allein schon Reihe des studentischen Millieu. Der Text findet sich auch bei http://www.cafemorgenland.net/archiv/2011/2011_10_28_ertragreich.html.
Details zur Veranstaltungsreihe und der Vortrag sind bei http://studentischesmilieu.wordpress.com/.

Vom ertragreichen deutschen Boden und seinen Nährstoffen

(Beitrag in der Veranstaltung des „Studentischen Milieus“ „Allein schon Deutschland II“ am 28.10.2011 an die Uni-Hamburg)

Die Gefahr ist gegeben, dass aus der Widerspenstigkeit ihres Gegenstandes heraus, eine Kritik der deutschen Zustände kaum mehr als ein Verzeichnis spezifischer Eigenschaften hervorbringt, das bei Bedarf als Beipackzettel zur linken politischen Folklore konsultiert werden kann. Ein wenig wirkt es wie die Suche nach einer verbesserten Rezeptur, wenn es gemäß der Ankündigung zu dieser Veranstaltung darum gehen soll „Begriffe der Kritik zu finden, die Rassismus und Antisemitismus in Deutschland kritisieren, und dabei nicht die deutsche Spezifik vernachlässigen“. Spezifisch ist vieles und wahrscheinlich alles, doch zunächst geht es um die „Verfasstheit der Gesellschaft“ und den „völkischen Nationalismus, der Auschwitz erst möglich machte und heute noch immer nicht überwunden ist“, wie es im Ankündigungstext heißt.
Eine bedeutende Vorarbeit der Kritik scheint darin zu bestehen, Bezug zu nehmen bzw. die Regeln der Bezugnahme auf die gewohnten politischen Entitäten „aufzuzeigen“. Gewünscht wird eine ertragreiche „Kritik an Rassismus und Antisemitismus“. Zur Debatte steht, ob man sich dabei positiv auf Deutschland beziehen könne. Genau genommen geht es dabei nicht so sehr um Deutschland, als um den Befund, ob das Spezifische, das „Auschwitz erst möglich machte“ überwunden oder überwindbar ist. Und hier fangen die Probleme an, die so vielfältig sind wie die Ausgrabungsstätten, die zur Ergründung der Ursachen von Auschwitz eingerichtet worden sind.
Wir sind gebeten worden hier über "die Allgegenwart von Rassismus und Antisemitismus in Deutschland“ zu sprechen, und zwar „begründet in ungebrochenen Kontinuitätslinien seit dem NS, ideologisch und historisch“. Wir sind nicht sicher, dieser Erwartung gerecht werden zu können. Zunächst einmal, weil wir nicht davon ausgehen, uns mit einer besonderen Perspektive zur Bezeugung der Allgegenwart von Rassismus und Antisemitismus einbringen zu können, die nicht auch von einem beliebigen Standpunkt aus wahrnehmbar wäre, wenn man will. Zudem finden wir es zu mühselig, uns über möglicherweise stattgefundene oder ausgebliebene Brüche ideologischer und historischer Kontinuitätslinien innerhalb der Deutschen Gewohnheiten und Verhaltensweisen den Kopf zu zerbrechen.
Bei dieser Gelegenheit möchten wir einer milieuspezifisch gelegentlich aufkommenden Fragestellung zuvorkommen: Wir wissen nichts über den Verbleib des „revolutionären Subjekts in Deutschland“ – nichts über seinen angemessenen Ausdruck, nichts über den Zeitpunkt seines Verschwindens und nichts darüber, ob er oder sie schon mal hier war oder irgendwann zurückkommen wird.
Was von unterschiedlichen Seiten und mit unterschiedlichen Motivationen gelegentlich als „deutscher Sonderweg“ bezeichnet wird, unterstellt mehr, als es erklärt. Der Begriff ist nah und nicht selten mitten im deutschen Monolog über die gewünschte moralische Auszeichnung, die man auf so besondere Weise erworben zu haben meint, indem man sich zumindest einmal die Hände schmutzig gemacht hat.
Gerade die Linken haben in den Jahren nach dem Umfallen der Mauer eine Vorliebe für Sonderwege entwickelt. Damit ist ihre ausgeprägte Sensibilität dafür gemeint, vorauseilend und wegweisend alles, was Unruhe in den geordneten Umgang mit der deutschen Spezifizität bringen könnte, so zu präparieren, daß es von Nutzen ist, sei es für eine Bewegung, für ein gutes Gewissen oder für eine neue konsensfähige Theorie. Unzählig sind die Namen und Titel der Gruppen, Initiativen, Organisationen, Bewegungen usw., die wie Pilze aus dem ertragreichen deutschen Boden der Kritik wachsen. Nach 20 Jahren haben wir aufgegeben, sie uns zu merken, und kümmern uns daher weder um Teile noch „…um`s Ganze“ dessen, was sich als deutsche Linke subsummieren läßt.
Somit sind wir mitten in dem, was wir als linksdeutsch charakterisieren. Dieser Begriff erfordert für einige unter Umständen eine Erläuterung. Wir könnten es natürlich hier abkürzen und den Begriff linksdeutsch als das bezeichnen, was es auch ist: Nämlich einer der Nährstoffe, mit dem der Deutsche Boden, zwecks Ertragsmaximierung angereichert wird. Sicherheitshalber werden wir es aber ausführlicher erläutern.
Bei dem Versuch, die Frage "was ist linksdeutsch" zu beantworten, muss
notwendigerweise auf den sprachtheoretischen Umstand Bezug genommen werden, daß
der Begriff `linksdeutsch´ auf der primitivsten Ebene ein Kompositum ist,
dass er aus zwei Simplizia zusammengesetzt ist: `links´ und `deutsch´. Jedes Simplex hat eine von der Bedeutung des Kompositums unabhängige eigenständige Bedeutung, die in die Rechnung einbezogen werden muß.
Zunächst zu der Frage ‚was ist deutsch? ‘: Eine – anhand von Parametern biologischer, physiologischer, psychologischer, kultureller Natur o.ä – positive Definition dessen, was Deutsch ist, lehnen wir kategorisch ab. So ist es nicht zulässig, darüber zu diskutieren, ob z.B. der Hamburger Ladenbesitzer, der seinen Laden „Zigeunerfrei“ halten will, seine deutschen Wünsche mit seinem Naturell begründen darf. „Was kann ich dafür, dass mir beim Anblick dieser Zigeuner der Gedanke an Gasöfen kommt“ sagte er vor Jahren dem Spiegel gegenüber.
Diesen Verweis auf die Unwillkürlichkeit der Assoziation muß man ernst nehmen. Die Suche nach einer Begründung dieses Gedankengangs will nicht wahrhaben, dass hier ein Täter von vornherein programmatisch ausschließt, dass er für seinen innigen Wunsch eine Legitimation braucht bzw. er dadurch vor anderen irgendwie in Bedrängnis kommen könnte.
„Deutsch“ ist kein Begriff, der einfach die Herkunft hergibt, haben wir vor langer Zeit geschrieben. „Es ist ein Kampfbegriff und eine Lebenseinstellung zugleich. Und vor allem der Inbegriff von Auschwitz. [...] Deutsch ist nicht jemand, der/die hier geboren ist, auch nicht jemand, der/die einen deutschen Pass oder Eltern hat, die deutsche Pässe haben usw. Deutsch muss man/frau werden. Als "Deutsch" muss man/frau erzogen werden "mit den Bilder des Opas in SS-Uniform", mit der 75-jährigen Oma "die immer noch stolz auf das Hakenkreuz in ihrem Führerschein ist". Mit der stillschweigenden Hinnahme, dass am Familientisch während des Abendbrots, ein (wahrscheinlich) Mörder (so genau weiss man/frau es nicht, weil nicht danach gefragt wird) dabei sitzt usw.“
Was das Attribut ‚Deutsch‘ demnach bezeichnet:
Erstens – und das ist das Einfache in diesem Zusammenhang – ist es die Gesamtheit der Handlungs-, Verhaltens- oder Denkmuster, die sich vor allem in dem Moment von Auschwitz kristallisieren; ungeachtet dessen, ob eines dieser konstitutiven Handlungs-, Verhaltens- oder Denkmuster vor, während oder nach Auschwitz an den Tag gelegt werden.
Zweitens ist es eine bestimmte Haltung und Positionierung denjenigen Handlungs-, Verhaltens- oder Denkmustern gegenüber, die für das, was sich in Auschwitz kristallisiert, konstitutiv ist. Deutsch ist demnach derjenige, der nicht eine klare und aktiv ablehnende Haltung gegen diese Handlungs-, Verhaltens- oder Denkmuster einnimmt, wo und wann immer sich die Konstellation ergibt, in der man sich diesbezüglich zu positionieren hat.
Was "links" wiederum bedeutet, lässt sich, trotz der ahistorisch anmutenden und beinah überirdischen Aura, mit der sich das Wort gern schmückt, streng kontextgebunden beantworten - eingebettet in die jeweilige, relativ eng zu definierende soziale Raum-Zeit -. "Links" bedeutet etwas Anderes, wenn man sich auf die sechziger Jahre in Deutschland bezieht, als es vor 1959 bedeutet hatte, oder heute bedeutet. "Links" hat also keine absolute Referenz. Die Referenz ist stets relativ, d.h., zeit- und raumgebunden und kann daher nicht a priori positiv sein. Das Adjektiv "links" kann also fallbezogen gut, nett, schlecht, wohlgestaltet, verachtungswürdig, anstößig, prächtig, verderblich, ungenießbar, zerstörerisch, tödlich, usw. bedeuten. Bestimmend wären dabei die jeweiligen Akzidentia.
Zumindest in den europäischen Sprachen verhält es sich so, dass sich ein Kompositum als eine exzellente Vorrichtung erweist, die sich ideal dazu eignet, Subkategorisierungen zu verrichten. Also ist auch das Kompositum "linksdeutsch" semantisch eine Subkategorisierung. Ein `linksdeutsches´ Etwas ist also ein `deutsches´ Etwas, das `links´ ist. Das Attribut markiert also eine Subgruppe der Gattung `deutsch´. Das bedeutet also, dass alles, was wir bezüglich des `Deutschen´ sagen, auch für den Subtypus `linksdeutsch´ gilt, ergänzt um weitere Besonderheiten, die über die Eigenschaften, die ihm von der übergeordneten Kategorie zugewiesen werden hinaus gehen.
Demnach wäre ‚linksdeutsch‘ heute:
a) wenn man einen anderen Kristallisationspunkt als Auschwitz in den Vordergrund seiner Handlungs-, Verhaltens- oder Denkmustern stellt, um Bewegungen bzw. Befreiungen jeglicher Art usw. in Deutschland konstruktiv zu gestalten;
b) wenn man Auschwitz als Kristallisationspunkt einnimmt, um Bewegungen bzw. Befreiungen jeglicher Art usw. in Deutschland konstruktiv zu gestalten;
c) wenn man einen bedeutenden Anteil aktivistischer Zeit und Energie in die Auskundschaftung von Orten investiert, die als neues Auschwitz interpretierbar sein sollen:
d) wenn Nachkommen der Täter eine Deutungshoheit über die Aufarbeitung der Taten der Täter beanspruchen, sei es um irgendjemand aufzuklären, zu entlasten oder zu befreien.
Verständlicherweise bedarf der zweite Punkt einer Erläuterung, da es offensichtlich im Widerspruch zum ersten steht, so nach dem Spruch „die deutschen machen es entweder falsch oder verkehrt“. Es stellt sich also die Frage, was es genau bedeutet Auschwitz als konstruktiven und zweckdienlichen Ausgangspunkt zu nehmen. Wir unterscheiden hierzu zwischen mindestens zwei grundsätzlichen Formen:
a) dem drastischen Vergleich,
b) der Berücksichtigung von Auschwitz als Option.
Für die erstgenannte Form gibt es in der jüngeren Geschichte unzählige Beispiele. Das Bekannteste ist vielleicht der Schlachtruf „Nie wieder Auschwitz“ des damaligen Außenministers im Bundestag, kurz bevor – nach einer über 50-jährigen Pause – die Bombardierung Belgrads wieder aufgenommen wurde. Es handelt sich um eine einfache rhetorische Geste, die den Vorwurf der Relativierung der Singularität von Auschwitz in Kauf nimmt, um eine makellose Legitimation zu erhalten.
Dem gegenüber steht der Bezug auf Auschwitz als Option, das heißt als stete Möglichkeit und Drohung der Deutschen jederzeit ihr Know-how zu aktualisieren. Unter diesen Know-how ist nicht nur die Technik und Logistik zu verstehen, sondern vor allem die Soft-skills, die sich in den 90er Jahren bewährt haben, die emotionale Bereitschaft zusammenzuhalten, geordnet und arbeitsteilig den hierfür vorgesehen Menschen das Leben zur Hölle zu machen.
Der Spruch, der uns meistens von der älteren Genreration (aber nicht nur) entgegen geschleudert wird „früher hätte sowas nicht gegeben“ oder „sie müssen sich bei uns in Deutschland benehmen“ wird verständlicherweise als Bedrohung empfunden. Daß es sich aber eigentlich um eine Feststellung handelt, wird oft übersehen. Feststellung bedeutet, daß kein Wenn und Aber zugelassen wird, keine zweite Chance, kein Ausweg. Es ist nur noch eine Frage des Anlasses und des Zeitpunktes.
Auschwitz demnach (laut erstem Punkt) als Kristallisationspunkt zu nehmen, bedeutet, nicht nach zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten zu fragen, d.h. weder auf seine Wiederholung zu lauern, noch nach vergleichbaren Ereignissen zu fahnden. Die Geschichte hält keine Rätsel bereit, die darauf warten, durch eine richtige Gesellschaftstheorie gelöst zu werden. Man muss die Shoah nicht als Werttheorie, nicht als instrumentelle Vernunft, nicht als das Unsagbare, nicht als Totalitarismus, nicht als Biopolitik usw. beschreiben. Entlang der Faktizität der Taten erklärt sich bereits alles: Shoah ist Theorie und Praxis zugleich.
Linke können im Rahmen jeweils angesagter theoretischer Modelle detailliert ausführen, wie diverse gesellschaftliche Makro- und Mikromechanismen verwoben sind mit z.B. dem simplen Vorgang, eine Liste aller Juden einer Stadt durchzugehen und sie einer nach dem anderen zu ermorden. Wenn aber hier und heute ein jugendlicher „die Fassung verliert“ und in aller Klarheit erläutert, was genau er nicht mehr ertragen kann, wenn er für einen Moment in seinem Leben nicht mehr als Abschaum behandelt werden will, dann stehen sie vor einer unüberwindbare theoretischen und praktischen Mauer, vor einem unlösbaren Rätsel. Diesem Rätsel können sie sich nur annähern, indem sie einen Grundkonsens mit der Gesellschaft suchen. Mit der Gesellschaft, über die sie jahre- und seitenlang in allen möglichen Abhandlungen über ihre Kontinuitäten und ihre Brüche schwadronierten. So war es im Fall von Serkan, so läuft es bei jedem Serkan ab.
Dennoch können wir vielleicht davon ausgehen, dass viele Deutsche gelernt haben, sowohl manche ihrer Wünsche zurückzustellen als auch sich von gewissen Fern- und Nahzielen zu verabschieden und mit diesem Verlust sogar klarzukommen. Wenn es aber die Umstände zulassen, soll heißen, wenn sich eine passende Gelegenheit ergibt, dringt auch mal eine kindliche Freude ans Licht, die verspürt wird, wenn man sich mal mehr und mal weniger umsichtig des altbewährten Symbolhaushalts bedient, und vielleicht sogar über ein vermeintliches Tabu stolpert. So entstehen diese zarten Blühten wie „Koran = Mein Kampf“, „Gaza-Streifen = Warschauer Getto“, oder die analytischere Variante „in Auschwitz wurde Wert vernichtet“ usw. Daher, festzustellen, ob es zwischen dem heutigen Rassismus und Antisemitismus eine gebrochene oder ungebrochene Kontinuität zum nationalsozialistischen Standard gibt, bringt nicht viel.
Wir empfehlen dagegen, bei der Betrachtung dessen, was passiert, sich möglichst nüchtern zu verhalten, vielleicht mehr, als es notwendig und gesund wäre. Denn die Wirklichkeit in Deutschland trägt keine Schleier. Um dies zu verdeutlichen haben wir zwei Beispiele ausgesucht, solche, die für die meisten wahrscheinlich als Problemfälle, als unpassend angesehen werden: Im Juli dieses Jahres sind -nach Verbüßung ihrer 25-jährigen Haftstrafe- zwei Sexualstraftäter in das Dorf Insel in Sachsen-Anhalt gezogen. Das Dorf ist aufgestanden und Demos, Proteste, also Widerstand, organisiert. Mit schwarz-rot-goldenen Vuvuzelas, die man noch als Beute aus der letzter WM aufgehoben hat, mit Kind, Kegel und Nazis auf den Straßen und Hausbelagerung; monatelang. Denn „sie müssen weg“. Mindestens. Die Polizei schütz das Haus, damit die Lynchjustiz ihr Ziel verfehlt.
Man könnte nun irgendeine der inflationären Diskussionen beginnen, um den Protest zu erklären, zu rechtfertigen oder auch zu widerlegen (indem z.B. die Teilnahme der Nazis an den Demonstrationen der Hetzmasse hervorgehoben wird; ein beliebter Ankerpunkt der linksdeutschen). Dies wäre aber nur dann möglich, wenn es tatsächlich darum ginge. Wir sehen es anderes.
Wir meinen, dass es überhaupt nicht mit deren Taten in Verbindung steht, sondern sie sind der Anlaß, um loszuschlagen. Ungeheuerliche Behauptung?
In Willmersbach in Mittelfranken fand ein noch gravierendes Ereignis statt. Vor über einem Monat kam heraus, daß ein Vater seine Tochter, seit ihrem zwölften Lebensjahr vergewaltigte - laut Anklage 497mal - und erzeugte mit ihr 3 Kinder (alle behindert geboren, 2 sind bereits gestorben). Nun stellte es sich heraus, daß alle 350 Einwohner im Dorf davon von Anfang an wußten, aber niemand –34 Jahre lang - den Mund aufmachte. Denn in dem Fall handelte es sich um einen der Ihrigen.
Wenn also von Sicherungsverwahrung die Rede sein soll, dann stellt sich die eigentliche Frage „für wen?“. Die ganzen Sprüche verkommen angesichts der Gegenüberstellung beider Ereignisse zu einem absurden Schmiertheater.

20 Jahre zurück: Einmal Hoyerswerda, immer Hoyerswerda
Betrachtet man die damaligen Geschehnisse in Hoyerswerda emotionslos und wertneutral, so muss man ohne zu zögern konstatieren, daß sie im Vergleich zu den vorherigen Umtrieben des deutschen Volkes fast wie ein harmloser Ausrutscher aussahen und somit es kaum verdienen, erwähnt zu werden. Weder lag ihnen ein besonderes staatliches oder sonstiges Arrangement zugrunde, noch zeichneten sie sich dadurch aus, daß es massenhaft Tote gab (genauer gesagt, es gab in Hoyerswerda keinen einzigen Toten im September 91). Auch die aktive Teilnahme der Protagonisten ließ zu wünschen übrig. Es war, wie es bei vergleichbaren Fällen gewöhnlich heißt, lediglich der Akt einer „Minderheit“.
Das einzige, was einem Vergleich standhalten würde, wäre höchstens die passive oder Beifall spendende Zustimmung der Mehrheit der Anwohner. Selbst dies aber wird zu Karikatur – angesichts der frenetischen Paraden und Ansammlungen, die von der damals üblichen Gestik (z.B. Hand-Hoch-Heben ) begleitet wurden. Wie gesagt, war der Vorfall in Relation zu den vorherigen Umtrieben kaum der Rede wert. Auch im Vergleich mit den Nachfolgeaktivitäten an anderen deutschen Orten mußte Hoyerswerda klein beigeben. Sie waren anderswo ertragreicher.
Und trotzdem wird seit 20 Jahren - gleichgültig wo, gleichgültig von wem, gleichgültig wie, gleichgültig aus welchen nichtigen oder wichtigen Anlässen- der Name dieses Ortes (meistens zusammen mit denen der Nachfolgeorten) reflexartig angeführt.
Was war bzw. ist es, was zu einer solchen Beständigkeit geführt hat? Was war der Grund, der den Namen dieses Ortes zum Metonym der deutschen Hässlichkeiten machte?
Es war die radikale Zerstörung der Nachkriegsannahme bzw. der Nachkriegsillusion, daß diese Population, entweder nie mehr die Erlaubnis hätte (durch Flächenbombardements, durch sibirische Erziehungsgefangenschaft, Alliiertenaufsicht, Verbotsgesetze, Verfassung, EU-Integration usw.), oder nie mehr imstande wäre – mittels „sozialistische Umerziehung“ (Osten), „Aufarbeitung der Geschichte“ (Westen) – das zu vollbringen, wozu sie sich von jeher berufen gefühlt hatte.
Es war die vollständige Zerstörung, das Zunichtemachen einer Nachkriegswelt, in die alle in irgendeiner Weise (wirtschaftlich oder ideologisch) in Deutschland investiert hatten. Die Welt war ordentlich in Gut und Böse geteilt. Ähnlich herrschten auch im Lande saubere Fronten: Kapitalisten oder Herrschende auf der einen Seite und das Volk, das Proletariat oder auch – je nach Standpunkt – „die unteren Schichten“ auf der anderen Seite. Mit anderen Worten: die nach Freiheit Strebenden auf der einen Seite und die noch zu Befreienden auf der anderen. Die Sache mit den Befugnissen bzw. Zuständigkeiten bezüglich eben dieser Befreiungsangelegenheit war also auch ordnungsgemäß geregelt.

Und plötzlich, d.h. unvorhersehbar und unerwartet, wird in einer Gegend, von der kaum zuvor Notiz genommen worden war, „die“, wie wir zu sagen pflegen, „Auschwitz–Karte“ gezogen. 50 Jahre nach der Vollendung des Deutschen präsentierten sie die Androhung der Anwendung von Techniken und spezifischem Know-how ihrer Fertigkeiten, z.B. ein Vertragsarbeiter-Wohnheim in ein Krematorium verwandeln zu müssen. Mit einem Male wurden die sozialhistorischen Analysen, sozialpolitischen Erkenntnisse, die lebensstilistischen Bereicherungen und Neuerungen – bspw. die Ikea-mäßige und WM-gerechte Neugestaltung des Alltags – im September 91 zu einem nicht mal recyclebaren Haufen gemacht und landeten über Nacht im wahrsten Sinne des klassischen Wortes in dem Mülleimer der Geschichte.
Europa war aufgeschreckt, die Schlagzeilen überschlugen sich. Bis heute kursieren Dokumentarfilme, „Analysen“ , „Studien“ der Ereignisse aus der ersten Dekade nach dem Umfallen der Mauer, mit den bekannten Bildsequenzen von brennenden Häusern und jaulenden Deutschen (als heißestes Jahr galt das Jahr 92, in dem es fast täglich Heime brannten).
Und es wurden große Aufpolierungsanstrengungen an den Tag gelegt, die bis heute andauern: „Hoyerswerda hofft auf die Erleuchtung. Hoyerswerda will sich bis zum Jahr 2025 von vielen Vorurteilen lösen. …Während die Konrad-Zuse-Stadt in den vergangenen 20 Jahren überregional eher durch die ausländerfeindlichen Ausschreitungen im Jahr 1991 und den Abriss von Dutzenden Hochhäusern Schlagzeilen gemacht hat, will sie nun zeigen, dass in diesen zwei Dekaden wesentlich mehr Positives passiert ist“(19.08.2011, Lausitzer Rundschau).
Man kann über die deutsche Sprache sagen was man will. Exakt ist sie schon: „Während die Konrad-Zuse-Stadt in den vergangenen 20 Jahren überregional eher durch die ausländerfeindlichen Ausschreitungen im Jahr 1991 und den Abriss von dutzenden Hochhäusern Schlagzeilen gemacht hat“. Zum einen wußten wir bis dato nicht, daß der Abriß von Hochhäusern in Hoyerswerda überregional Schlagzeilen machte (es ist davon auszugehen, daß der berühmte Reissack in China mehr Schlagzeilen machte, als er umfiel), und zum anderen dürfen wir keinen Zweifel daran haben, daß es sich tatsächlich um Hoyerswerda handelt: Häuserabriß und Pogrome in einem Atemzug… auch nach 20 Jahren.
Was mußte sich zur Erklärung der Vorkommnisse nicht alles herhalten; Arbeitslosigkeit, Haltlosigkeit, emotionales Loch, SED-Diktatur, Sozial-Klimbim, geistreiche psychotherapeutische Ansätze usw. Selbst in den autonomsten Ausformungen taten die darin mit Herz und Seele Involvierten alles, um zu retten, was nicht mehr zu retten war, in einer Mischung aus sozialrevolutionärem Gebaren und Gefühlsduselei. Auszug aus der autonomen Demo-Gruppe, in Interim, nr.. 165, 17. Okt. 1991: „Einige AnwohnerInnen ließen von den Balkons Körbe mit Getränken und Fressalien herab, einige kamen herunter, es begannen Gespräche untereinander und dann wollten etwa 30 junge Leute aus Hoyerswerda die Spitze der Demo übernehmen. Sogar das Leittransparent haben sie etwas später übernommen und Durchsagen durch Megafone und den Lautsprecher gemacht: Aufforderungen an die AnwohnerInnen, mitzulaufen, wenn sie ihren Protest gegen die rassistischen Angriffe artikulieren wollen, und Aufforderungen an die DemonstrantInnen aus Hoyerswerda und von außerhalb, sich am 3. Oktober zu einer Gegendemo gegen die Nazis zu treffen. Die mitdemonstrierenden Leute aus Hoyerswerda brachten eine neue Dynamik in die Demo. Tatsächlich hat die Demo für alle sichtbar da etwas in Hoyerswerda angeschoben, eine mutige Sache war es, sich dort in den ersten Reihen zu zeigen. Und es entstand ein wechselseitiger Lernprozess: Wir waren nicht mehr die von außen Eingefallenen, nicht mehr ein Störfaktor, sondern kriegten Bedeutung für manche Leute in Hoyerswerda. Und unser Bild von Hoyerswerda veränderte sich. Zu unserer Wut kam nun die Wahrnehmung konkreter Brüche in der Bevölkerung in Hoyerswerda„.
Schon bei der Gründung von Café Morgenland – immerhin war gerade Hoyerswerda der Anstoß für unsere Gründung – , schrieben wir vor 20 Jahren, um die Sympathie der Linksdeutschen zum Volk und Heimat etwas einzudämmen: „Deutsche, die sich »verhalten«, wie z.B. die BürgerInnen aus Hoyerswerda, die sich anderthalb Wochen nach der endgültigen Vertreibung der Flüchtlinge einer autonomen Demo anschließen, nennt ihr mutig. Dass wir aber diese »mutigen BürgerInnen« einzig und allein nach ihrem Verhalten während der »Belagerungszeit« beurteilen, nennt ihr sektiererisch“. (Deutschland im Herbst 91-Rassismus als Norm).
Im Laufe der Jahre, wurden aus den „Brüchen“, welche man in Hoyerswerda gesehen haben wollte, solide Brücken. Unerschütterliche Brücken, die bis heute anhalten. Aus dem lästigen „Störfaktor“ und „von außen Eingefallenen“, welche die Linken gerne gewesen wären, wurden integrative Elemente, die der „neuen Dynamik“ nachlechzen, bis heute. Dazu wurden die dort während der antirassistischen Demo in Hoyerswerda stattgefundenen handgreiflichen (und zum Teil blutigen) Auseinandersetzungen zwischen überwiegend migrantischen Gruppen und ihren Unterstützern auf der einen und den autonomen Wiedervereinigungsgewinnlern auf der anderen Seite in die Archive der deutschen Verschwiegenheitsakten geschoben. Die deutsch-autonome Geschichtsschreibung sorgte erfolgreich dafür, daß kaum jemand mehr heute darüber spricht, obwohl dies und gerade dies – also die Frage „wie hältst du es mit deinem Volk“ – bis heute aktueller denn je bleibt.

Café Morgenland, 28. Okt. 2011

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